Kino: Christopher Nolans rauschhafter Agenten-Actionfilm "Tenet“

Requiem für eine untergehende Welt: Christopher Nolans hochkonzeptuelles Agenten- und Zeitreise-Spektakel „Tenet“ soll eine neue Kinolust entfachen, die derzeit vielerorts fehlt.

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Es ist seltsam, aber nach nicht viel mehr als fünf Monaten des pandemischen Kinoentzugs sieht Christopher Nolans futuristischer Agenten-Actionfilm „Tenet" bereits aus, als hätte uns ein außerirdisches Objekt aus dem Weltall erreicht. Dabei ist der Rahmen dieser Produktion ganz klassisch, fast schon konventionell: Ein für extreme Fälle ausgebildeter Spezialist wird mit einer streng geheimen Mission betraut, die nichts Geringeres als die Verhinderung des Dritten Weltkriegs, des Untergangs dieses Planeten zum Ziel hat.

Die Aufgabe ist jedoch denkbar kompliziert, denn sie besteht darin, die Zukunft so weit zu verändern, dass der andernfalls kommende Auslöschungskrieg nicht stattfinden kann. Das physikalische Prinzip der Zeitumkehr kommt dabei zur Anwendung: Eine Reihe „invertierter“ Objekte, etwa Projektile, die zurück in den Lauf der Waffe springen, haben die handelnden Figuren aus der Zukunft erreicht. In einer der unendlich vielen parallel verlaufenden Zeitebenen kann man sich, unterwegs durch die Temporalschichten, auch selbst antreffen, sollte dabei aber tunlichst Abstand halten. Und wenn einen, sagen wir, zwei maskierte Angreifer aus verschiedenen Richtungen der Zeit attackieren, dann sind diese beiden Figuren vermutlich ein und dieselbe Person. Noch Fragen?

Die Erzählung dieses Films ist absichtlich verwirrend, ein head-scratcher, wie das im Englischen so bildlich heißt; denn wie Zeit, Schicksal und Wirklichkeit genau interagieren, ist den meisten von uns nicht ganz so klar wie dem Personal, das in diesem Film antritt: „Tenet“ ist Stoff für künftige Proseminararbeiten am Philosophieinstitut, aber eigentlich, wenn man die wissenschaftlichen Nebelgranaten abzieht, die Nolan zündet, ein ganz normaler Action-Thriller. Denn in seinem Kern ist der Film dann doch ganz nahe an den „Mission Impossible“- und James-Bond-Epen (nur ohne die nervige Dauerironie und all den „nostalgischen“ Sexismus), von den exotischen Locations und den internationalen Spionageverstrickungen bis hin zu den technischen Gadgets, die von den Agenten hier in Anschlag gebracht wird. Dabei gehört „mind-bending“ zu den meistverwendeten Begriffen, wenn von Nolans elaborierten Kinoerzählungen die Rede ist: Tatsächlich legen es Filme wie „Menento“ (2000) oder „Interstellar“ (2014) darauf an, den Verstand zu verbiegen, mit Unfassbarem vertraut machen. Man wird, wenn man in den theoretischen Kosmos der Raumzeitkrümmung, der Relativitätstheorie, der Quantenphysik und der Viele-Welten-Interpretation einsteigt, schnell an die Grenzen der eigenen Vorstellungskraft geführt. Nolans Kino der Attraktionen nützt das aus. Denn „Tenet“ scheint tief in die theoretische Physik einzudringen – und bleibt doch klar den verführerischen Oberflächen des Kinos verpflichtet.

Hollywood hat sich letzthin rar gemacht, wenigstens in den Kinos; viele der verfügbaren Großproduktionen wurden verschoben, weil im krisengeplagten Nordamerika gerade in den Großstädten, wo das meiste Geld gemacht wird, die Lichtspielhäuser geschlossen halten. Die Streamingdienste haben inzwischen die Oberhand gewonnen, Disney+ etwa versucht ab 4. September, mit „Mulan“, dem Realfilm-Remake eines 22 Jahre alten Trickfilms, das nötige Millionengeschäft zu machen. Allerdings benötigt jener Film, nur um seine Ausgaben zu decken, 8,4 Millionen Kunden, die zusätzliche 30 Dollar für den „Mulan“-Stream auszugeben bereit sind. Das heißt, jeder siebente Abonnent von Disney+ müsste diese Summe in den kommenden paar Wochen lockermachen. Riskante Rechnung. 

Mit über 200 Millionen Dollar „Tenet“ hat ein ähnlich hohes Produktionsbudget wie „Mulan“; die Marketingkosten aber, die durch die dreimalige Verschiebung des Filmstarts um jeweils zwei Wochen angefallen sind, haben dazu geführt, dass der Film nun, wie Branchenzeitungen vorrechnen, an 450 Millionen Dollar weltweit einspielen müsste, um nicht Verluste zu machen. In Europa und Kanada startet „Tenet“ diese Woche, in den USA am 3. September, obwohl die beiden größten US-Filmmärkte, New York City und Los Angeles, längerfristig ausfallen dürften. 

„Tenet“ ist ein smarter Filmtitel, ein Palindrom, zugleich das Wort für Glaubensgrundsatz, Prinzip, Theorem: Tenet benennt die Mission des namenlosen Helden – charismatisch dargestellt von dem Ex-Footballer John David Washington ("BlacKkKlansmen"), der sich das Wissen aneignet, die umgekehrt laufende Zeit für sich zu nutzen. Ein über Leichen gehender und in die Zukunft vernetzter Oligarch und Waffenhändler, verkörpert von Kenneth Branagh mit viel manieristischer Bosheit (und starkem russischen Akzent, aus der Mottenkiste des Agentenfilms), soll daran gehindert werden, die Welt auszulöschen. Die Australierin Elizabeth Debicki und Robert Pattinson komplettieren die attraktive Besetzung. Der auffällige elektronische Soundtrack des jungen Schweden Ludwig Göransson, Oscar-Preisträger für seine Musik zu dem Superheldenspektakel "Black Panther" (2018) ist ein definitives Plus: Die Musik färbt die Erzählung von Anfang an spektakulär düster, erscheint derart maßgeschneidert, dass die Klänge mit den Texturen der Bilder und der Geschwindigkeit der Kamerabewegungen oft ganz exakt übereinstimmen.

Über die Mechanik der Zeit nachzudenken heißt auch: über das Kino nachzudenken. Nolan ist ein craftsman, ein Kinohandwerker, er dreht grundsätzlich mit analogem Filmmaterial (hier wieder: 70mm-Film im IMAX-Format). Er weiß das Materielle zu schätzen als Gegenwert zur digitalen Augenauswischerei: In „Tenet“ wird eine echte Boing 747 verschrottet und in Brand gesetzt, angeblich konnte Nolan nachweisen, dass dies „kosteneffektiver“ sei als auf virtuelle computergrafische Animation zu setzen. Die Ungreifbarkeit der Zeit und das Wesen der Erinnerung gehören zu Nolans Obsessionen, der Kunst-Blockbuster ist seine Vision. Mit „Tenet“ knüpft Nolan an einen Film an, den er vor zehn Jahren in die Kinos gebracht hat, der vom Hantieren mit Träumen und widerrechtlich ins Bewusstsein der Menschen implementierten Ideen handelte: Der surrealistische SciFi-Thriller „Inception“ war, genau wie „Tenet“ eine nerdige Physik-Lektion und trotzdem extrem erfolgreich, sie spielte weltweit, wohl auch ihres Helden wegen (Leonardo DiCaprio), 830 Millionen Dollar ein – das Fünffache seines Budgets.

Ob dies in Zeiten der erzwungenen Kinoentwöhnung wieder gelingen kann, wird erst noch zu beweisen sein. Eine Nebenfigur, die dem Helden das Phänomen der invertierten Objekte vertraut machen will, bringt das Mantra dieses Films jedenfalls auf den Punkt: "Don't try to understand it. Feel it."

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.