Szene aus "I, Daniel Blake"

Kino: Neues von Jarmusch und Loach

In ihren neuen Filmen romantisieren sie das Leben kauziger Zeitgenossen.

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Auf die Zumutungen des Lebens reagieren die beiden Männer, die im Zentrum zweier neuer Arthouse-Filme stehen, höchst unterschiedlich: der eine als Wutbürger, der andere als Amateurlyriker; der eine in fortgeschrittenem Alter, der andere als junger Melancholiker; der eine probt den Aufstand gegen eine übermächtig-inhumane Wohlfahrtsbürokratie, der andere hat sich in die zauberischen Innenwelten seiner Fantasie zurückgezogen.

Erstaunlich sanft legt Jim Jarmusch, 63, der ewige Hipster-King des Indie-Kinos, seinen jüngsten Spielfilm an: "Paterson“, so heißt sowohl seine aktuelle Komödie als auch deren sanftmütiger Protagonist als auch ihr Schauplatz. In Paterson, New Jersey, gehen die Uhren, wenn man Jarmusch glauben mag, anders. Sein Kleinstadt-Amerika ist von Donald Trumps Neid- und Ressentiment-Nation ebenso weit entfernt wie vom harten Pflaster im nahen Moloch New York City. Im multiethnischen Paterson sind die Menschen hilfsbereit und freundlich, sie folgen streng geregelten Tagesabläufen und leben gleichsam poetisch. Ein tagträumerisch veranlagter junger Busfahrer (tatsächlich passt auch hier der Name des Darstellers perfekt: Adam Driver) geht hier in aller Harmonie, mit kreativer Frau und lakonischer Bulldogge, seinem Tagwerk nach, findet sein Glück im Kleinen, in der Utopie seiner kaum Aufsehen erregenden Existenz - und im Verfassen lyrischer Schriften, die er nicht zu veröffentlichen wagt.

Auch in "I, Daniel Blake“ steht die zentrale Figur schon im Filmtitel (wenn auch der Ort der Handlung Newcastle heißt, nicht Blake) - und es geht, wie man dem Signet entnehmen kann, um eine Selbstbehauptung. Der Tischler Daniel Blake kämpft um die Würde der britischen Arbeiterklasse. Er lehnt sich gegen die Unmenschlichkeit der Sozialhilfe auf, fordert Recht und Gerechtigkeit ein, wo nur Verwaltung herrscht: ein Michael Kohlhaas der zweiten Legislaturperiode David Camerons.

Kafkaeske Tour

Er sei fit für die Arbeit, erklärt ihm ein Schreibtischtäter kühl; der Herzinfarkt, den Blake unlängst erlitten habe, sei kein Grund für den Bezug von Invaliditätspension. Dies zwingt den angezählten Helden zu einer kafkaesken Tour durch die Ämter und Institutionen, in denen der 59-Jährige ohne Computerkenntnisse aber weder eine Chance auf Werktätigkeit hat noch eine auf finanzielle Absicherung. Als er zufällig die mittellose junge Alleinerzieherin Katie (Hayley Squires) kennenlernt, beschließt er, ihr zu helfen.

Sein Film werde in einer Zeit prämiert, in der Menschen, die in der fünftreichsten Nation dieses Planeten leben, Hunger leiden müssen, sprach also der britische Regisseur Ken Loach, Überraschungssieger der Filmfestspiele in Cannes, im Mai dieses Jahres, wenige Minuten nach der Übernahme der Goldenen Palme, ausgerechnet aus den Händen von Mel Gibson. Die Welt sei derzeit in gefährlichem Zustand: "Ein Projekt namens Austerität hat uns fest im Griff, getrieben von Ideen, die wir Neoliberalismus nennen und die uns an den Rand der Katastrophe geführt haben.“ Eine der großen Traditionen des Kinos sei es, die Interessen der Menschen gegen jene zu verteidigen, die Macht ausübten; diese Tradition gelte es, am Leben zu erhalten.

Das gesellschaftliche Engagement, mit dem Ken Loach, inzwischen 80 Jahre alt, seit über fünf Jahrzehnten Filme macht, ist glaubhaft und sympathisch, allerdings nicht unbedingt eine Garantie für künstlerisches Raffinement. Und auch wenn "I, Daniel Blake“ in ihrem sozialen Realismus und ihrer Pathosneigung eine sehr typische Loach-Inszenierung ist, so erscheint der Film in seinem zweiten Teil dann doch zu absehbar in seiner Dramaturgie - getragen zwar von einem zupackenden Hauptdarsteller, dem Stand-up-Comedian Dave Johns, und dem bisweilen sehr pointierten Drehbuch Paul Lavertys. So funktioniert die Erzählung vom Alleingang des sturen Arbeiters eine Zeit lang bestens, Loachs Porträt moralischer Korrektheit reißt zunächst durchaus mit.

Aber dann entgleist der Film doch. Denn Loach setzt, wie stets, auf melodramatische Zuspitzung, auf Tränenseligkeit und Schicksalsschlag. Und Daniel Blake, auch das wird irgendwann klar, ist einfach zu gut, um wahr zu sein - ein Altruist und Menschenfreund, ohne jedes Laster, immer auf der goldrichtigen Seite und selbstverständlich ohne jede Sympathie für rechte Demagogen: der Lehr- und Modellfall eines linken Systemverlierers.

Detailfreudiger Jarmusch

Die Form, die Jarmusch seiner so simplen Busfahrer-Story verleiht, ist da um einiges gewagter, nimmt durch Originalität und Detailfreude ein. Der sanften Kindlichkeit seines Helden entspricht das Universum, das der Regisseur ihm zumisst - eine Welt, in der nichts Böses, nichts auch nur ansatzweise Verstörendes geschieht, in der es nur hauchzarte Variationen des immergleichen Tages zu erleben gibt und kleine magische Momente, die sich nur dem erschließen, der genau hinsehen mag.

Etwas latent Unheimliches ist der Zwanghaftigkeit, mit der Paterson seine Existenz führt, jedoch eigen: Die exakt eingehaltenen Uhrzeiten und sklavisch befolgten Routinevorgaben lassen eine gut verdrängte Panik ahnen, von der "Paterson“ wenig mitteilt. Das Ritual, in dem es sich der junge Dichter gemütlich gemacht hat, könnte auch einen psychischen Defekt verdecken, aber Jarmuschs trockener Witz mag davon nichts wissen. Die minimalen Variationen im Tagesablauf des scheuen Helden ergeben sich aus den wenigen von ihm nicht kontrollierbaren Elementen: aus einem kleinen Liebesdrama in der Bar, an der er allabendlich genau ein Bier trinkt; der unerwartete Ausfall des Schulbusses, den er täglich steuert, der Verlust seiner handgeschriebenen Gedichtesammlung. Paterson reagiert jedoch auch auf Fügungen dieser Art stoisch. Das Kunsthandwerk, mit dem seine Frau Laura (Golshifteh Farahani) täglich das gemeinsame Domizil schmückt, hat etwas Provokantes, das in Widerspruch zu Lauras süßlichem Wesen steht.

Jim Jarmusch hat Filme mit Musikern wie John Lurie ("Stranger Than Paradise“, 1984) und Tom Waits ("Down by Law“, 1986) gedreht, hat Verehrer von Charlie Parker ("Permanent Vacation“, 1980) und Elvis ("Mystery Train“, 1989) zu seinen Helden gemacht, hat einen müden Vampir als Musiker inszeniert ("Only Lovers Left Alive“, 2013) und Dokumentarfilme über Neil Young ("Year of the Horse“, 1997), zuletzt auch über Iggy Pop vorgelegt ("Gimme Danger“, 2016). Mit "Paterson“ wechselt Jarmusch nun vom Pop zur Poesie, von Jazz und Rock’n’Roll zur Literatur. Um den Prozess des Schreibens geht es in diesem neuen Film ganz entscheidend, die bestechend simplen Gedichte des Helden - tatsächlich verfasst von dem US-Lyrik-Veteran Ron Padgett - füllen bisweilen die Leinwand, zum Mitlesen und Eintauchen in die Poetologie eines charmant-befremdlichen Zeitgenossen. Und gegen Ende wird es dann fast literaturhistorisch, wenn nicht nur Allen Ginsberg zitiert wird, sondern auch der modernistische Dichter William Carlos Williams (1883-1963), der einst Hausdichter in Paterson war und dessen Hauptwerk - genau - ebenfalls "Paterson“ heißt.

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.