Klassik: Kirill Petrenko und die Berliner Philharmoniker in Salzburg
Den kleinen Mann mit dem verschmitzten Blick würde auf der Straße wohl niemand erkennen. Aber geht Kirill Petrenko, geboren 1972 in Omsk, überhaupt zu Fuß? Bestimmt, denn auch Götter haben menschliche Bedürfnisse. Petrenko selbst wäre zwar als Erster sehr dagegen, ein Gott genannt zu werden. Aber er ist mit schuld daran, dass man ihn inzwischen weltweit beweihräuchert – weil er göttlich gut ist und weil er kaum noch spricht. Kirill Petrenko steht nur da und dirigiert, in wunderbarer Verfeinerung.
Dabei kann der neue Chefdirigent der Berliner Philharmoniker durchaus sprechen. Sehr gut, sehr klar, sehr intelligent. Aber eben nur über die Sache, sein Orchester, seine Vorstellung von Musik, die für ihn „die einzige Heimat“ ist. Früher, als er schon einmal in Berlin amtierte, von 2002 bis 2007 als Chefdirigent der Komischen Oper, war er nahbar. Das ist er heute nicht mehr, zumindest für Journalisten. Dabei reisten für sein Berliner Auftaktkonzert am Freitag vorvergangener Woche Kritiker aus Japan, den USA und aus China an. Die Berliner und ihre Chefs (vor Petrenko: Furtwängler, Karajan, Abbado, Rattle) waren und sind ein Epizentrum der Klassik. Ihre ewigen Rivalen, die Wiener Philharmoniker, kommen übrigens cheflos aus.
In Berlin reicht die perfekte mediale Vermarktung eines selbstbewussten Klangkörpers bis zur „Digital Concert Hall“ mit ihren 4K-Kameras, die fast jedes Konzertprogramm von der Spree in die ganze Welt beamen. Eigenwilliger und stolzer tritt kein Orchester auf, das sich als demokratische Musikerrepublik selbst verwaltet. Hier werden Programmmaßstäbe in der Erweiterung des Kanons und hin zu den anderen Künsten gesetzt. Und weil dieses Orchester seinen Chefdirigenten meist selbst wählt, steht nun der scheue, in sich gekehrte Kirill Petrenko im Rampenlicht und nicht mehr nur im Opernorchestergraben, wo er so viele Jahre verbracht hat.
Feilen, so lange es geht
Petrenko nimmt die Musik und sonst nichts ernst. Er arbeitet noch disziplinierter und konzentrierter als das Gros seiner Kollegen, überlässt nichts dem Zufall, feilt, so lange es geht, immer weiter.
Er trägt ab sofort auch ungeheure Verantwortung. Kirill Petrenko ist 47, so alt wie sein Vorgänger Simon Rattle, als dieser vor 17 Jahren sein Amt antrat. Er ist die Speerspitze seiner Generation, zu der auch Vladimir Jurowski, der 2021 Petrenkos Nachfolger an der Bayerischen Staatsoper wird, Philippe Jordan, ab 2020 Musikdirektor der Wiener Staatsoper, der Grieche Teodor Currentzis und der Franko-Kanadier Yannick Nézet-Séguin gehören. Als Benjamin in dieser Runde führt der 38-jährige Venezolaner Gustavo Dudamel in Los Angeles den Taktstock.
Sie alle haben auch die Berliner Philharmoniker dirigiert, genau wie Petrenkos stärkster Rivale, der kürzlich 60 gewordene Christian Thielemann. Doch die Berliner haben sich 2015 in einer dramatischen Wahl gegen ihn entschieden, stattdessen für den Jüngeren, weniger Kontroversen und Doktrinären, mit dem man erst zwei gemeinsame Konzertserien absolviert hatte – aber eben für einen, dem besonders das Kernrepertoire am Herzen liegt, auch weil Petrenko selbst noch gar nicht so firm darin ist, sich gerade seinen ersten kompletten Mahler-Zyklus im fernen Bregenz erarbeitet und längst nicht alle Bruckner-Sinfonien auf dem Pult liegen hatte.
Schlagkräftig, ehrlich und unverschnörkelt
In Berlin startet er mit Beethovens Neunter und Alban Bergs „Lulu“-Suite mit der von ihm sehr geschätzten, als erste Sängerin zur Artist-in-Residence ernannten Sopranistin Marlis Petersen. Und sofort geht es mit diesem Programm weiter zu den Salzburger Festspielen: Am 25. und 26. August sind sie dort zu erleben; zusätzlich gibt es Musik von Schönberg und Tschaikowsky. Warum aber ausgerechnet Beethoven? Kirill Petrenko hat eine einfache Erklärung parat: „Weil die Botschaft der Neunten alles enthält, was uns als Menschen auszeichnet, im Positiven wie im Negativen.“ So schlagkräftig, ehrlich und unverschnörkelt macht dieser Mann auch Musik.
Der Russe, der erst in seiner Heimatstadt und später – die jüdische Familie war nach Vorarlberg emigriert – in Feldkirch und Wien studierte, schätzt Österreich nach wie vor; man hört es an seinem Deutsch. Sein Handwerk hat er ganz altmodisch an kleineren Häusern als Kapellmeister gelernt: am Landestheater Vorarlberg, wo er 1995 debütierte, an der Wiener Volksoper (zwischen 1997 und 1999) und am Meininger Theater, wo er zusammen mit Christine Mielitz 2002 einen vielbeachteten „Ring des Nibelungen“ herausbrachte. Diesen dirigierte er erneut 2013 drei Spielzeiten lang, an der Seite von Regisseur Frank Castorf bei den Bayreuther Festspielen. Ein Konservativer ist er also nicht, auch wenn er sich auf das Wesentliche konzentriert. Vielleicht wird man Kirill Petrenko auf der Straße doch bald erkennen.