Klimakrisentänze: Wie der Choreograf Jérôme Bel sein Medium dekonstruiert
Kann man die Choreografien der Natur ins Tanztheater bringen? Wie versinnbildlicht man die Bewegungen wachsender Pflanzen, tierische Routinen oder geologische Transformationen? Der französische Choreograf Jérôme Bel, 59, liebt Herausforderungen dieser Art. Seine Werke, oft an den Grenzlinien zwischen Tanz und konzeptueller Kunst situiert, werden – spätestens seit seinem mit Amateuren besetzten Pop-Performance-Lustspiel „The Show Must Go On“ (2001) – global akklamiert und nicht nur in Tanzinstitutionen, sondern auch in honorigen Weltkunsthäusern wie dem Pariser Centre Pompidou, dem New Yorker Museum of Modern Art und der Londoner Tate Modern gezeigt.
Bel besitzt starkes Umweltbewusstsein, hat seit 2019 alle Flugreisen für sich und seine Kompagnie gestrichen. Die Tanzwelt stecke in einem „System der extremen Globalisierung“ fest, sagt der Künstler; drastische Änderungen seien nötig.
Wiens ImPulsTanz-Festival scheut Bels Institutionenkritik nicht. In seiner Schlussphase bietet es nun noch dessen jüngste, in Zusammenarbeit mit der Kunsthistorikerin Estelle Zhong Mengual realisierte Arbeit „Non human dances“ auf (am 7. und 9. August im Volkstheater, einige Tickets sind noch zu haben).
Es ist nicht die einzige ökologisch getönte Choreografie dieses Festivals: Anne Teresa de Keersmaeker und Radouan Mriziga haben unter dem Titel „Il Cimento dell’Armonia e dell’Inventione“ erst vor zwei Wochen ihre dynamische Hommage an Vivaldis „Vier Jahreszeiten“ gezeigt.
Zhong Mengual, 35, arbeitet an einer ökologischen Kunsthistorie, untersucht in ihrem Buch „Apprendre à voir. Le point de vue du vivant“ („Sehen lernen: Der Standpunkt der Lebenden“, 2021) das Zusammenspiel von Malerei und nichtmenschlichem Leben; sie unterrichtet an der Sciences Po und an den Beaux-Arts in Paris. „Non human dances“ wird eine Reihe historischer Choreografien zum Thema zitieren, eine Art Anthologie des Ökotanzes veranstalten – in Form einer Lecture Performance. Estelle Zhong Mengual wird sich in „Non Human Dances“ gewissermaßen selbst spielen, erläuternde Kommentare zu den gebotenen Choreografien abgeben.
Jérôme Bel taucht in der vereinbarten Videokonferenz mit Verspätung auf, er weile noch im Urlaub, entschuldigt er sich, dafür ist er bestens gelaunt. Interviews gibt er dieser Tage, wenn überhaupt, fast nur noch schriftlich, für profil macht er eine Ausnahme.
Wie kam dieser Abend, der das Verhältnis von Natur, Kunst und Mensch auslotet, zustande?
Bel
Ich wollte schon vor Jahren eine Show über die ökologische Krise auf die Beine stellen, aber ich war wie blockiert. Also nahm ich mir vor, mich in einem ersten Schritt mit der Vergangenheit meiner Kultur, mit der Geschichte des Tanzes zu konfrontieren. Das ist eine alte Strategie: Wenn man nicht weiß, wie man mit der Gegenwart umgehen soll, konsultiere man am besten die Vergangenheit. Und dann erhielt ich einen Anruf aus dem Louvre: Man lud mich ein, ein solches Stück zu entwickeln.
Der Louvre gab den entscheidenden Anstoß?
Bel
Genau. Ein Museum! So kam mir auch die Idee, Estelle einzuladen, eine Kunsthistorikerin. Wir ließen uns durch den Louvre führen und wussten beide sofort, dass sich diese Struktur auch auf der Bühne wiederfinden müsste: eine kommentierte Tanzausstellung. Ich mag das Format der Lecture Performance sehr, denn ich benötige Sprache in meinen Stücken. Insbesondere dieses virulente Thema braucht Kontextualisierung, Perspektiven und Kritik. Deshalb ist Estelle auch auf der Bühne und präsentiert die verschiedenen historischen Ansätze, die sie im Übrigen heftig kritisiert. Sie fand diese Choreografien viel problematischer als ich. Für mich gehören Estelles Reaktionen zum Besten an diesem Stück. Die zitierten Werke sind Teil meiner Kultur, und ich liebe sie, aber Estelle fand daran vieles ganz falsch. Ich entgegnete: Nein! Sie sind wunderschön, historisch bedeutsam – Höhepunkte der Tanzgeschichte! Aber Estelle blieb bei ihrer Kritik.
Zhong Mengual
Natürlich sind diese Stücke schön und tanzhistorisch relevant; aber sie werden problematisch, wenn wir sie mit gegenwärtigen Fragestellungen konfrontieren. Dann kann man sehen, wie eng unser Verständnis der Natur war – und leider immer noch ist. Einige dieser klassischen Choreografien hätten vor ein paar Jahren noch weniger interessant ausgesehen. Heute fühlen sie sich wegen der Krise, in der wir uns befinden, viel akuter an.
Bel
Deshalb braucht es auch so dringend artikuliertes Wissen. Wenn wir nur einen Tanz nach dem anderen vorführten, würde das niemand verstehen. Die Klimakrise ist immer noch zu kompliziert für uns alle.
Zhong Mengual
Auf die klassische Landschaftsmalerei wird ähnlich geblickt. Die Reaktion des Publikums ist meist bloß: Oh, wie schön! Denn das erwarten wir von der Natur – und vom Tanz: Schönheit und Virtuosität.
Welche kreative Rolle spielten Sie als Kunsthistorikerin? Ist dies Ihre erste künstlerische Praxis?
Zhong Mengual
Als Kind hatte ich intensiven Tanzunterricht, als Jugendliche erwog ich, mich theoretisch mit Tanz zu befassen. Jérôme kontaktierte mich, weil er meine Bücher kannte, besonders hatte ihn ein Werk interessiert, das ich 2021 veröffentlicht habe: „Sehen lernen“. Dort fusionierte ich Ökologie und Kunstgeschichte erstmals, erforschte die Frage, wie Pflanzen, Tiere und Natur in der westlichen Malerei repräsentiert sind. Wofür sind sie da? Meist nur, um menschliche Erzählungen, Bedeutungen und Gefühle zu repräsentieren, durch Symbole, Metaphern und Spiegelungen. In meinem Buch suche ich andere Interpretationen von Tieren und Pflanzen in Gemälden – Räume, in denen die Andersartigkeit jener Wesen anerkannt wird.
Die „Vermenschlichung“ von Tieren gehört zu den Konventionen der Naturdarstellung, bis in die populären Trickfilme hinein.
Zhong Mengual
Ja, aber dieser Anthropomorphismus kann in der Malerei auch Tieren gelten, die ganz akkurat dargestellt sind. Ein Vogel, der in allen Details naturalistisch repräsentiert wird, kann dennoch nur deshalb im Bild sein, weil er etwas Menschliches an- oder bedeuten soll.