Detailansicht einer Ebenseer Landschaftskrippe.

Krippen in Ebensee: Handwerk, Folklore, Handelsware

Weihnachtskrippen sind Handwerk, Folklore und Handelsware im Wert von Hunderttausenden Euro. Mit Religion haben sie fast nichts mehr am Hut. Eine Reise ins oberösterreichische Ebensee, das sich jeden Dezember in Europas Krippenzentrum verwandelt.

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"Oh!" und "Wow!", tönt es durch den Saal. Mit jedem Satz, den Franz Gillesberger an die Besucherinnen richtet, erntet er Erstaunen. Gillesberger führt sieben Frauen aus Neuseeland, dem Anschein nach Pensionistinnen, durch die Ausstellungsräume. Nach einer Reise um die halbe Welt stehen die Touristinnen an diesem verschneiten Dienstagnachmittag zwischen Krippenlandschaften im Museum von Ebensee. Es muss für sie wie ein Märchenpark wirken. "Wussten Sie, dass unsere Sammlung europaweit einzigartig ist?", geht die Frage in den Raum. "Ah!", entfährt es einer Urlauberin.

Ebensee am Traunsee, Oberösterreich, 7500 Einwohner, SPÖ-Hochburg, Ex-Industrieort, neben Neapel und dem norditalienischen Friaul der alljährliche Krippen-Hotspot Europas. In Ebensee kann man auf der Suche nach der Faszination von Weihnachtskrippen einiges über Alltagsmagie und Handwerk, Politik und Heimat, Kunstkostbarkeiten, Globalisierung und antiquierte Frauenbilder lernen. "Krippen sind Gesamtkunstwerke", erklärt Gillesberger den Neuseeländerinnen. Alle nicken.

Gillesberger ist Leiter des Museums in Ebensee. Er war Professor für Deutsch und Geschichte, und genauso sieht er aus. Brille, Bart, beste Manieren, alte Schule. Religion hält der Mittsechziger für ausgemachten Humbug, Ex-Cathedra-Verkündigungen sind ihm suspekt, er ist mehr Peppone als Don Camillo.

Krippen gehören in Ebensee von Anfang Dezember bis Maria Lichtmess am 2. Februar, das hier "kleines Weihnachten" genannt wird, zur Gemeindemöblierung. Gillesberger schätzt, dass weit über 400 Krippen in Privathaushalten aufgestellt werden. "Keine Kripperln, sondern Krippön", sagt Gillesberger. Kripperln schmücken Stubenecken. Krippen, ebenseerisch eben "Krippön", sind auf große Holzplatten gebaute, auf Böcken ruhende Landschaften, für die ganze Wohnzimmer leergeräumt werden. Ohne Krippe kein Weihnachten. Es gibt alte Ebenseer, die sich mit leuchtenden Augen daran erinnern, wie sie als Kinder unter aufgebockten Krippenplatten schliefen. Fünf dieser Krippen sind im Regionalmuseum ausgestellt. Seit 35 Jahren widmet das Haus den Krippön seine Weihnachtsschau. 2015 wurde das Ebenseer Krippenhandwerk in das Verzeichnis des "Immateriellen Kulturerbes" der UNESCO aufgenommen, bereits vor zehn Jahren erschien eine Diplomarbeit an der Wiener Universität zu dem Phänomen. "In Ebensee wird mit der Krippe noch gelebt", resümiert die Historikerin darin: "Es ist nicht zu vergleichen mit der relativ gedankenlos stattfindenden Aufstellung eines Christbaumes oder auch von Krippen und anderer weihnachtlicher Ausschmückungen der Wohnungen an vielen anderen Orten."

Franz Gillesberger

Mit kleinen, tänzerischen Schritten schreitet Gillesberger die Gebilde aus Styropor, Steinen, Sand, Holzstöcken, Moos und Wurzelwerk ab. Krippen nach Ebenseer Art stellen die Ebenseer Landschaft im Hochsommer nach. Die steinige Wüstenlandschaft, in der Maria mit ihrem Sohn niederkam, verwandelt sich in freundliches Sattgrün: Ebensee als Vorort von Bethlehem. "Der Heiland wird geboren, weshalb die Natur verrücktspielt", erklärt Gillesberger das "Aufmacha", den Aufbau einer ortsüblichen Landschaftskrippe. Ein Gang mit Gillesberger durch das Museum ist ein Crashkurs in Ebenseerisch. "Mias" ist das Moos für die Krippen, das Monate zuvor zum Trocknen aufgelegt wird. "Bieh" die Bühne für die Miniwelt, die "Haid" das von Plastikefeu umkränzte HintergrundgemäKrippen in Ebensee: Handwerk, Folklore, Handelswarelde, auf dem Papiersingvögel sitzen, im Volksglauben Botenbringer Gottes. Auf der Bieh spielt sich die Gleichzeitigkeit von Jahrtausenden ab. Zeit und Raum sind aufgehoben: Da der neugeborene Heiland auf Stroh, dort eine Ebenseer Villa en miniature; der Gamsjäger mit angelegter Flinte neben dem Weisen im Kaftan mit dem Weihrauchfass. Verwitterte Häuschen säumen Wege, umgeben von Wäldern und Kuhweiden, unter einem Himmel hingetuschter Wolken in Frühlingsblau. Die perfekte Idylle im Klitzeklein-Format. Ein Hort der Heiterkeit. Der Kartonhimmel wirkt groß, weil die Häuser winzig sind, riesenhaft erhebt sich der gemalte Traunstein. Der Teich mit den Enten und Fischen glänzt giftig grün. Der Hirte mit dem Holzstab wacht über seine wollschweren Tiere. Alter Knabe mit lockigem Haar. Schafe in himmlischer Ruh.

Die Story auf der Bieh wechselt von einem Cliffhanger zum nächsten. Da die schlafenden Schafhirten; der Engel, der die Frohbotschaft verkündet: "Fürchtet euch nicht!" Der ruppige Herbergswirt, der Josef und der schwangeren Maria die Tür weist; der dunkelhäutige Lakai, mit Mühe einen Elefanten bändigend; Esel und Ochs, die ewig stummen Zeugen, die - eines der wenigen ungeschriebenen Gesetze des Krippenbauens - hinter Maria (Esel) und Josef (Ochs) kauern; schließlich die Geburt des Herrn in baufälligem Verschlag.

Krippenbasteln ist eine Liebhaberei, die für Außenstehende schwer nachvollziehbar ist. Eine Disziplin, in der es schwierig ist, etwas wirklich Neues zu machen: Da ist Josef, ein Mann mit meist imposantem Bart, der wie eine Mischung aus kanadischem Holzfäller und New Yorker Hipster aussieht, neben Maria, ätherisches Wesen mit Schleierblick, und natürlich das Kind in der Krippe, blondgelockt und pausbäckig. Die Ebenseer Schnitzer und Baumeister sind deshalb aber kein Grüppchen von Gestrigen. Mit sympathischer Bockigkeit halten sie an ihrem Ganzjahresvergnügen fest. Religion spielt eine Nebenrolle. Die Heimwerker verstehen sich als Miniaturweltenschöpfer. Mehr Bastler denn Kirchenfreunde. Mehr Handwerk denn Hochamt.

Die Ebenseer Krippen sind keine theologisch ausgefuchsten Tableaus. Es geht nicht um religiöse Exegese, sondern um die Freude am Werken. Jede Krippe eine fröhliche Karambolage aus Geschichten, Mutmaßungen, Interpretationen, Legenden, Überlieferungen -weihnachtliche Wimmelbilder, die von zeitlosen Dingen erzählen. Von Flucht und Fremdsein. Von Türenzuschlagen und Türenöffnen. Das ist die eine Dimension der Krippe, die politische. In der NS-Zeit wurde die Bastelei ebenso verboten wie unter Kaiser Joseph II. und Maria Theresia, die Krippen für überflüssigen Tand hielten. "Migration" steht groß in roten Buchstaben auf einem Leuchtkasten, Überbleibsel einer vorangegangenen Ausstellung im Ebenseer Museum über Flucht und Ankommen. Jede Krippe erzählt die berühmteste Migrationsgeschichte der Welt. Man gerät hier schnell vom Kleinen ins Große. Von der fernen Vergangenheit in die kalte Gegenwart der Abschiebungen und Rückführungen.

Detailansicht einer Krippe.

Wenn Gillesberger über Krippen spricht, fallen oft Worte wie "Leihgabe", "Spende", "Schenkung", "Privatbesitz". Die Frage nach dem Geld. Alte Krippen gelten nicht nur hier als Kostbarkeiten der Volkskunst, als hochpreisige Handelsware. Im Verkaufsweg bestehen Krippen aus Figuren und wenigen Gebäuden; die rustikalen Landstriche werden jedes Jahr neu gebaut. 70.000 Euro bot unlängst ein Linzer Sammler für ein Ebenseer Set, die sogenannte "Giner-Krippe" wurde vor einigen Jahren auf einer Auktion um eine Viertelmillion Euro ausgepreist. Franz Gillesberger kann sich lange in der Erklärung der kleinen Figuren verlieren. Gillesberger zeigt auf einen Bärtigen mit Federvieh unterm Arm. "Naz mit da Budahenn", sagt er kennerisch: Ignaz ist ein Spielzeugmann mit sonnigem Gemüt, der mit einer Henne mit butterweichem Fleisch als Gabe hin zum Jesuskind eilt. Da steht der "Fleischhacker Sepperl": Metzger Sepp, der figürlich an einen Wirtshaushocker mit Biervorliebe denken lässt, führt ein Kalb an einem Strick, von zwei Fleischerhunden flankiert, ebenfalls auf dem Weg zum Heiland. Dann noch der "Lampöfuadara", ein fürwitziger Hirtenbub, der sein Schaf aus einer hingehaltenen Schüssel füttert. Seit 150 Jahren festgefrorene Bewegungen aus geschnitztem Lindenholz. Mit etwas Fantasie kann man sich vorzustellen, wie die Figurinen, sobald das Deckenlicht verlöscht, zum Leben erwachen. Gewimmel nachts im Museum. Dazu das Ia-hen der Esel, das Hühnergackern, das Muhen der Ochsen und Trompeten der Elefanten, die sich auf den langen Weg ins Salzkammergut machten. Ein Saal voller Gerede und Geflüster. Summende Geschäftigkeit.

Ilse Ofner

Krippenfiguren wurden früher mit Pflanzensäften, Blut oder Ziegelstaub angemalt, im Fachsprech: "gefasst"."Faltenwurf und Fassung sind wunderbar", brummt Gillesberger, als er eine Figur ohne Namen sanft in der Hand wiegt. "Leonie oder Jasmin würde ich sie nicht taufen, eher Resi oder Vroni." Staubiges Licht tanzt durch die Fenster des Saals auf die Krippen im Aufbau. Ende Dezember öffnet die Ausstellung. Eine der Touristinnen aus Neuseeland deutet auf eine winzige Gämse im steilen Krippengebirge. Gillesberger, der grundsätzlich viele Geschichten parat hat, erzählt die Geschichte von den Gämsen aus Ebensee, die Kaiser Franz Joseph den Neuseeländern als Geschenk via Zug und Schiff geschickt und die sich auf der gegenüberliegenden Seite der Welt schlagartig vermehrt und zur Landplage entwickelt hatten. "Sechs bis sieben Gämsen überlebten die Überfahrt", berichtet Gillesberger das Abenteuer einer erfolgreichen Migration. "Ohne natürliche Feinde breiteten sich die Tiere über die Insel aus." Alle nicken. Die Reise endet im Wiener Rathauspark. Hier wartet Ilse Ofner, Obfrau einer Krippenbastelgruppe aus dem 16. Bezirk. Zwölf Exponate des Vereins sind im Park zu sehen. Touristen aus Spanien und Italien stehen in Gruppen davor. "Oh!" und "Ah!" Wer wissen will, was Krippen noch erzählen, tut gut daran, Ofner, 63, zu treffen. "Was ist Heimat?", fragt sie. Heimat seien nicht nur Berg, Gras und Wald, sondern auch Straßenschluchten, Hinterhöfe, Sackgassen. "Heimat ist das, was uns umgibt." Die Wiener bauen krippentechnisch deshalb Wien nach: In einer kommt Jesus in einem Stall mit Fiakerpferden zur Welt, in einer anderen ist das Kind unter einer Brücke von Obdachlosen umringt. Auf dem Mülleimer die Zahlen "24/12", Referenz an die MA48, die zuständige Magistratsabteilung für den Wiener Abfall.

Ofner, Zahnärztin im Ruhestand, schwarze Turnschuhe zum roten Mantel, pflegt ihr Hobby mit trockenem Humor. "Es gibt keine Vorschriften beim Krippenbau. Esel und Ochs, Maria, Josef und ein Säugling sind jedoch nie verkehrt. Für viele Kollegen sind noch ein Zaun, eine Wasserstelle und Bäume unabdingbar." Religion ist wie in Ebensee hier Beiwerk - auch weil die Kirche selbst an der Krippenkunst wenig Interesse zeigt. Der Wiener Medienpfarrer Toni Faber segnete jüngst den Adventbogen beim Eingang zum Rathausplatz. Faber ist dafür bekannt, allem Möglichen und Unmöglichen seinen Sanktus zu erteilen. Die Krippen im Park ignoriert er. "Unser Wunsch, die Exponate in Kirchen auszustellen, stößt seit Jahren auf taube Ohren der Diözese", sagt Ofner: "Vielleicht sind Krippen für die Kirche einfach nicht mehr zeitgemäß." Sie kommt beim Rundgang im Park vor ihrer eigenen Krippe zu stehen. Maria liegt entspannt auf einer Matratze, Josef hält Jesus im Arm. "Maria muss als Figur traditionell knien", sagt sie: "Das geht bei mir gar nicht." Ofners Krippe ist eine kleine Vorstadtkirche, sie wirkt offen, einladend. Damals öffnete sich das Tor. Heute bleibt es immer öfter zu.

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Wolfgang   Paterno

Wolfgang Paterno

ist seit 2005 profil-Redakteur.