Regisseur Quentin Tarantino am Set von "Once Upon a Time … in Hollywood"
Missionar der Coolness

Missionar der Coolness: Quentin Tarantinos "Once Upon a Time in Hollywood"

Fernsehwestern, Filmnostalgie und Frauenfüße: Quentin Tarantino fantasiert in "Once Upon a Time in Hollywood" den "Summer of Hate" des Jahres 1969 neu

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Es war einmal, vor genau einem halben Jahrhundert, als der süße Traum von Frieden, Gleichberechtigung und freier Liebe zerplatzte. 1969, im Annus horribilis einer entgleisenden Gegenkultur, kamen die Vereinigten Staaten von Amerika schockiert zu sich: Die Massaker in Vietnam weiteten sich aus, ein bis heute nicht identifizierter Serienkiller namens Zodiac zog eine blutige Spur durch Kalifornien, und die Toten des Altamont Free Concert, der Westküsten- Version des friedlichen Woodstock, führten die alles andere als einigende Macht der Rockmusik schlagend vor Augen.

Die globale Aufbruchsstimmung nach dem "Sommer der Liebe" 1967, als die Hippiebewegung von San Francisco aus die Kraft der Blumen predigte, verglühte aber nicht erst auf dem Altamont-Speedway Anfang Dezember 1969 -sie war schon vier Monate davor zu Ende: Am 9. August, kurz nach Mitternacht, keine drei Wochen nach der ersten bemannten Mondlandung, wurden fünf Menschen, darunter die hochschwangere Schauspielerin Sharon Tate, in einem Haus in Los Angeles von Mitgliedern der Manson-Sekte brutal ermordet; einen Tag später, in Los Feliz, einem anderen Viertel der Stadt, fiel das Unternehmerpaar Leno und Rosemary LaBianca den Messerstechern zum Opfer. Der Kult um den sich als Ersatz- Christus gerierenden Kommunenführer Charles Manson hatte sich in einen blutigen Krieg verwandelt, in dem drogenberauschte Satanisten auftragsgemäß Menschen, die man zufällig ausgewählt hatte, zu Tode brachten.

Wenige Tage nach den Tate-LaBianca-Morden wurde in der Kleinstadt Bethel, gute zwei Autostunden von New York City entfernt, das legendäre Woodstock- Festival eröffnet. Es versprach "3 Days of Peace and Music", 400.000 Menschen folgten der Einladung. Von dem Schlamm und dem organisatorischen Chaos, das sich entwickelte, war in der Ankündigung keine Rede gewesen.

Die Eröffnungsrede hielt übrigens, in der Hoffnung auf friedliche Abwicklung des überbevölkerten Konzertreigens, Swami Satchidananda, ein indischer Guru, der leicht erhöht, umringt von seinen Jüngern, in orangefarbener Robe und klassischem Meditations- Schneidersitz zu den Massen sprach - von der Notwendigkeit, den Frieden in sich selbst zu finden. Für diesen "kämpfen" zu wollen, wie die Antikriegsdemonstranten gern proklamierten, sei widersinnig. Doch der "Summer of Hate" war nicht mehr aufzuhalten.

Es war einmal, vor genau einem Vierteljahrhundert, als ein ehemaliger Videothekar aus Los Angeles mit "Pulp Fiction" mit Chuzpe, Fantasie und Nerd-Wissen das Hipsterkino neu erfand. Quentin Tarantino machte sich mit seinem zweiten Film, der die typische Mischung aus Gewalt und Witz erstmals in Reinkultur präsentierte, unentbehrlich. Heute gehört er, als zweifacher Oscar-Preisträger, als Regisseur und Autor wegweisender Filme wie "Reservoir Dogs" (1992),"Jackie Brown" (1997) und "Inglourious Basterds" (2009) zu Amerikas prominentesten Regisseuren.

Seine Bekanntheit ist enorm, seine Handschrift bürgt für Qualität: Während üblicherweise nur sieben Prozent des US-Kinopublikums vor allem wegen des klingenden Namens des Regisseurs ins Kino gehen, sind es bei Tarantino weit über 40 Prozent. Mehr noch als Martin Scorsese oder Clint Eastwood gilt er als Auteur, als Schöpfer höchst persönlicher (und kantig-unterhaltsamer) Genre-Zaubereien. Tarantino ist eine Marke. Wenn er nun zusammen mit Brad Pitt und Leonardo DiCaprio, zwei der sympathischsten Superstars Hollywoods, antritt (sie sind hier erstmals gemeinsam im Kino zu sehen), um in gewohnt exzentrischer Manier von Pop, Gewalt und Leidenschaft zu erzählen, ist er eine nahezu unschlagbare Waffe: ein Fanatiker der abwegigen Erzählung, ein Missionar der Coolness.

Bis heute kocht Quentin Tarantino mit Liebe, zur Routine sind seine Produkte nie erstarrt. Der hohe Anspruch seiner Projekte zeigt sich in den All-Star-Besetzungslisten (Zaungäste in seinem aktuellen Film: Al Pacino, Kurt Russell, Lena Dunham, Dakota Fanning, Luke Perry, Bruce Dern und Michael Madsen) ebenso wie in ihren meist beträchtlichen Laufzeiten: Fast drei Stunden dauerte sowohl die Sklaverei-Fabel "Django Unchained" (2012) als auch Tarantinos voriger Film, der winterliche Western "The Hateful Eight" (2015); das zweiteilige Uma-Thurman-Rachedrama "Kill Bill" (2003/2004) benötigte gleich mehr als vier Stunden. Die 160 Minuten von "Once Upon a Time in Hollywood" sind das Ergebnis radikaler Kürzungen in der Schlussphase des Schnittprozesses; angeblich war der Film noch wenige Wochen vor seiner Uraufführung in Cannes im vergangenen Mai an die fünf Stunden lang.

Tarantino, 56, spielt mit Popkultur wie ein französischer Küchenchef mit seiner Gewürzkollektion. Der prall gefüllte Soundtrack allein beherbergt neben Vintage-Radiowetterberichten und -Werbeeinschaltungen mehrere Dutzend Songs aus der zweiten Hälfte der Sixties, die meisten gut abgehangene Rock-,Pop-und Psychedelic-Klassiker: von Deep Purples "Hush" über Songs von Paul Revere & the Raiders bis zu den Rolling Stones, die mit ihrem "Baby, baby, baby, you're out of time" auch Tarantino selbst meinen könnten. Denn als Künstler lebt er tatsächlich in der Vergangenheit, in der verflossenen großen Zeit des Kinos, als die neonerleuchteten Filmpaläste an den Boulevards von L.A. mit ihren Schaustücken noch ein Massenpublikum erreichten.

Für den Titel seines neuen Films hat Tarantino nun am Œuvre des Italo-Meisters Sergio Leone Maß genommen. "Once Upon a Time in the West", so hieß 1968 jenes Werk, das in unseren Breiten etwas Leone 16 Jahre später seine letzte Kino-Steilvorlage. Tarantino bleibt im Westen, in Amerika - und wird knackiger "Spiel mir das Lied vom Tod" genannt wurde, und unter "Once Upon a Time in America" lieferte noch konkreter: "Once Upon a Time in Hollywood" (Österreich-Kinostart: 15. August) passt mit seiner selbstreflexiven Anlage zu den Obsessionen seines Schöpfers -und liefert ihm zudem einige gute Vorwände, seiner Vorliebe für nackte Frauenfüße zu frönen, die auch hier ausgiebig ins Bild gesetzt werden.

Es war einmal: die Traumfabrik. Ein Ort, an dem Begehrensaufbau und Triebabfuhr seit mehr als einem Jahrhundert gleichsam industriell abgewickelt werden. Aber gebaut wurde diese Fabrik auch auf traumatisierende Intrigen, auf Karriereknicks und auf Gewaltverbrechen, die noch heute Alpträume wuchern lassen. Als böses Märchen hatte Tarantino schon "Inglourious Basterds" angelegt: "Once upon a time in Nazi-occupied France" steht darin am Anfang zu lesen. Mit Bosheiten hält er sich in seinem neuen Film, der an jeweils zwei Tagen im Februar und August 1969 Leonardo DiCaprio spielt eine psychisch angezählte, etwas weinerliche TV-Western-Größe namens Rick Dalton; sein berufliches Tief ist unübersehbar, aber noch hat er Aufträge. Sein Wohnhaus liegt am Cielo spielt, zunächst merklich zurück. In entspanntem Tonfall bringt er seine beiden fiktiven Helden in Stellung: Drive im Benedict Canyon, nördlich von Beverly Hills. In der Villa nebenan sind unlängst Roman Polański, Regisseur des Erfolgsschockers "Rosemary's Baby", und seine Frau Sharon Tate eingezogen. Sie kennen Rick Dalton bedauerlicherweise nicht, dabei könnten sie ihm jobtechnisch durchaus nützen. Brad Pitt tritt als sein loyales Stunt-Double und Mädchen für alles auf: Cliff Booth lebt mit seinem Pitbull in einem Wohnwagen im Nirgendwo der Stadt, neben einem Drivein-Kino, aber meist hält er sich daheim bei seinem Buddy Rick auf. Im cremefarbenen Cadillac, den stets Cliff zu steuern hat, weil sein Alkoholikerfreund längst keinen Führerschein mehr besitzt, gondeln sie durch eine Stadt, in der alles Kino ist: das Licht, die Farben, die Menschen. Los Angeles, man sieht das in jeder Einstellung, ist surreal, eine Fiktion, überlebensgroß.

"Once Upon a Time in Hollywood" feiert eine verlöschende Kultur, zeigt liebevolle Rekonstruktionen schwarzweißer TV-Western, die einst noch auf 16mm-Filmmaterial gebannt wurden, erfreut sich an denkwürdigen Drehpausen-Duellen (physisch und verbal), streift durch Hollywood-Partys und lauscht Produzentengeschwafel, schaltet zwischendurch Bilder von der Mechanik eines 35mm-Filmprojektors ein - selbstverständlich wurde auch "Once Upon a Time in Hollywood", wie stets bei Tarantino, analog gedreht. Und irgendwann treffen Cliff und Rick, eher unbeabsichtigt, auf Charles Mansons mörderische Gang. Roman Polański taucht als Figur in "Once Upon a Time in Hollywood" nur kurz auf, ebenso Manson selbst. Denn dieser Film gehört Sharon Tate, berührend und souverän verkörpert von Margot Robbie. In einer der schönsten Szenen dieses Films besucht die scheue Sharon ein Kino, in dem eine Komödie läuft, in der sie selbst die Hauptrolle spielt. Sie sieht "The Wrecking Crew", freut sich still über sich selbst und die Reaktionen des Publikums -und legt ihre nackten Füße bildfüllend über den Vordersitz.

Tarantinos neunter Film - sein vorletzter, wie er angekündigt hat -könnte sein lukrativster werden, auch wenn er erstmals ohne seinen langjährigen Produzenten und Public-Relations-Beschleuniger Harvey Weinstein entstanden ist, der sich nach einer Reihe von Vergewaltigungsanklagen und Missbrauchsvorwürfen, gegenwärtig mit elektronischer Fußfessel auf den Beginn seines Prozesses im Herbst vorbereitet. Als "Once Upon a Time ... in Hollywood" am vorvergangenen Wochenende seinen US-Kinostart auf über 3600 Leinwänden feierte, spielte er an nur drei Tagen gut 40 Millionen Dollar ein, nie zuvor hatte Tarantino einen derart erfolgreichen Kassenstart (obwohl er mit "Inglourious Basterds" 2009 nah dran war). Für einen Film, der weder das Superhelden-noch das Animations-Genre bedient, ist dies ein fabelhaftes Ergebnis. Aber es wird noch einiges an Einnahmen brauchen, um ein Break-Even zu erreichen. 95 Millionen Dollar soll Tarantinos jüngste Retrofantasie verschlungen haben. Regisseur und Hauptdarstellerduo haben sich übrigens hohe Beteiligungen an den Profiten gesichert.

Die Heiterkeit, die in diesem Film herrscht, ist melancholisch getönt; als Abgesang auf die Ära der Oldschool-Film-Entertainer, als Liebesbrief an die Handwerker und Machismo-Könige der Schauspielzunft; Bruce Lee und Steve McQueen sind wesentliche Nebenfiguren dieser Erzählung. Der Western ist Tarantinos Basis-Genre, nach "Django Unchained", "The Hateful Eight" und "Inglourious Basterds", der, so der Regisseur einst, "ein Spaghetti-Western mit der Ikonografie des Zweiten Weltkrieges werden" sollte. Westernmotive waren in Südkalifornien anno 1969 mühelos zu finden: Ab den 1920er-Jahren gab es hier unzählige "Movie Ranches", Farmen, die sich für Western-Dreharbeiten eigneten und die hohen Studiokulissenkosten sparten. Eine halbe Autostunde von Beverly Hills entfernt, auf der Spahn Movie Ranch, die 20-minütigen, perfekt getimten Glanzszene völlig unangestrengt einen erinnerungswürdigen Auftritt hin. Das leichtsinnige Finale, von dessen Plot hier zu schweigen ist, steht dagegen ein wenig quer zum Rest der Songwriter und Sektenführer Manson 1968 mit seiner Gefolgschaft bezogen hat, legt Brad Pitt in einer des Films. Der alte Tarantino-Zynismus kehrt zurück, aber die geistreich gesetzte Coda der Erzählung stellt die Zartheit, die sanfte Ironie dieser fiktiven Chronik eines realen Kulturverlusts wieder her.

Was kann nach diesem Film noch kommen? Womit wird Tarantino seine Regiekarriere, die längst selbst Teil der US-Filmgeschichte ist, beenden wollen? Wird er noch einen letzten ganz lässigen, betont unspektakulären Film wie "Jackie Brown" drehen? Die Chancen, dass er -mit einem kolportierten "Star Trek"-Sequel -diese singuläre Laufbahn mit einer Fußnote zu den All-Abenteuern des alten Raumschiffs Enterprise beschließen wird, sind jedenfalls gering. Überhaupt: Tarantino im Ruhestand? Kaum vorstellbar. Aber reden wir in ein paar Jahren weiter. Die Liste derer, die den betagten heiligen Quentin zum einen oder anderen Kino-Bonus-Track überreden wollen werden, wird länger sein als der unendlich anmutende Credits- Schlussroller seines aktuellen Films.

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Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.