Wolf Haas leidet in "Junger Mann" unter Witzezwang
Wolf Haas dürfte an einem Wolf-Haas-Luxusproblem laborieren. Jedes neue Buch des Salzburgers steht im überlangen Schatten des Erfolgsprojekts der "Brenner"-Krimis. Der Brenner selbst, Haas' populärste Figur, mit der sich der Bestsellerautor zwischen 1996 und 2014 eine eigene Liga erschrieb, verschärft die Problematik.
Die überlebensgroße Kunstgestalt schiebt sich so unweigerlich wie formatfüllend über jeden Protagonisten der Post-Brenner-Ära, jeder neue Haas-Held wird insbesondere an der Erzählstimme, an Duktus, Timbre und Humor- Koeffizient in den Büchern mit dem eigenbrötlerischen Privatdetektiv gemessen, der bereits durch acht Romane irrlichterte. Müsste man einen Satz finden, der das Dilemma beschreibt, es wäre der meistzitierte: "Jetzt ist schon wieder was passiert." Viel darf aber nicht passieren: Wer Haas kauft, will Haas lesen. Den Kollegen im deutschen Feuilleton ist übrigens bis heute nicht klarzumachen, dass Brenner -respektive der sprechfreudige Ich-Erzähler im Hintergrund - nicht im Wiener Duktus parliert, sondern in gewiefter Kunstsprache, welche sämtliche Konstruktionsgesetze des Krimigenres en passant lustvoll auf den Kopf stellt.
"Junger Mann" ist einerseits der programmierte Bestseller dieses Bücherherbsts. Nach "Das Wetter vor 15 Jahren" (2006) und "Verteidigung der Missionarsstellung" (2012) ist Haas' neuer Roman andererseits der bislang ambitionierteste Versuch des Autors, einen Weg ins freie Feld jenseits der engen Brenner-Grenzen zu finden.
Die Geschichte von "Junger Mann" hätte auf einer Streichholzschachtel Platz: 13-Jähriger in der österreichischen Provinz verliebt sich im Sommer 1973 unsterblich in die Dorfschönheit Elsa und unternimmt mit dem Fernfahrer Tscho, Elsas Mann, einen Trip nach Jugoslawien. "Junger Mann" ist Jugendroman und Roadmovie mit einem für Haas' Verhältnisse überraschend sentimentalen Ende. Das vornamenlose Ich im Zentrum arbeitet in den Schulferien als Tankwart und wird "dicker Wuzel" gerufen; am Ende ist er 15 Kilo leichter und um einige Einsichten reicher.
Niemand erwartet von Haas ernsthaft, dass er den sozialkritisch-politisch-aufklärerischen Roman der 1970er-Jahre neu schreibt, mit Zeitdekor und Epochenkostüm. Sein Metier ist das Hintupfen, aus dem ein Ganzes entsteht. An der Tankstelle fährt ein Renault 5 vor, der deutsche Bundespräsident Walter Scheel hat ein Haus in der Nähe, "Mars"-Riegel und Eisbecher sind Luxus; es gibt den autofreien Tag wegen Benzinknappheit, der Wasserspringer Niki Stajkovic ist ein Sportheld, die Sendung "Wir" eine TV-Institution, und Elsa legt im Auto ihre Adriano-Celentano-Kassette ein.
Haas opfert seine Geschichte über weite Strecken jedoch einem entfesselten Klamauk. Insofern ergibt die sich durch das Buch ziehende, auf Dauer bemühte Typisierung des fiktiven Helden als eingebildeter Fettwanst mit Diätwunsch durchaus Sinn: Haas stopft seinen Protagonisten mit Wissen, Redensarten, Einsichten und Witzen voll, die für einen 13-Jährigen seltsam fremd anmuten. Haas thront als Autorengott über dem verzagten Jugendlichen, amüsiert sich königlich über das Treiben und Scheitern seines Geschöpfs. Als Leser ist man mit einem Adoleszenten mit libidinöser Mutter-Bindung und diffiziler Vater-Beziehung konfrontiert, der knifflige Situationen mit schier unerschöpflichem Hanswurstiaden-Reservoir meistert. Das Lachen, das aus dem Buch rollen soll, darf kein Ende nehmen. Die aufreizende Aura der Lässigkeit, mit der Haas eine untergegangene Epoche umreißt, fällt ungedrosseltem Witzezwang zum Opfer.
"Do you love me out?"
"Es gab im Leben nicht auf alles eine Antwort", stellt das anonyme Ich fest. Haas hat vielleicht zu viele Antworten parat. Sobald er seinen Helden einfach Held und nicht Humor -Superman sein lässt, wird der Roman zum Glücksfall einer Coming-of-Age-Geschichte: "Früher war sie fröhlicher gewesen. Aber ungefähr mit jedem Kilo, das ich zulegte, hatte sie mehr geseufzt, nicht über meine Kilos, sondern über die Tonnen des Daseins, die sich auf ihren Schultern türmten und hauptsächlich einen Namen trugen, den meines Vaters." Die Sorgen um die Zukunft ihres Buben kleben der Mutter wie Make-up auf dem Gesicht, die Szene, in der der Sohn seinen Vater im Irrenhaus besucht, ist ebenso weltmeisterlich wie jene, in der die schöne Elsa von ihrem jugendlichen Galan Englischnachhilfe bekommt: "Und sie sagte: ,Do you love me?' , Was?' - ,Do you love me out?' - ,Was meinst du?' - ,Ob du mich auslachst!' - ,Laugh', korrigierte ich sie halb erleichtert." Herrlich sinnbefreites Aneinander-Vorbeireden, als spielte man Schallplatten zu langsam ab, bei denen man zum ersten Mal genau hinhört.
"Rückwärts durch die Knie betrachtet war die Welt immer am interessantesten", vermerkt Haas an zwei Stellen im Roman. Selbst ein Skisprungunfall wird zum Glück. Der Bub liegt mit zerschlagenen Knochen im Bett, von Muttern mit Schokoladebergen versorgt: "Wie ein Boxer, der vom Fliegengewicht direkt ins Schwergewicht aufsteigen", der, wie sein Erfinder, "ohne einen einzigen Kampf im Bantamgewicht zu absolvieren", direkt in die "Königsklasse" will.