William Kentridge vor einem seiner Werke in Rom

Künstler William Kentridge: "Meine einzige Hoffnung war, alles zu verlernen"

Der südafrikanische Künstler William Kentridge bespielt Salzburg derzeit gleich mehrfach: Für die Festspiele inszeniert er Alban Bergs Oper "Wozzeck", im Museum der Moderne zeigt er seine Installationen. profil sprach mit Kentridge über seine Vorliebe für Prozessionen, psychologisches Theater und künstlerische Unschuld.

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William Kentridge hat einen dichten Zeitplan. In Salzburg arbeitet der Künstler auf mehreren Baustellen gleichzeitig: Das Museum am Mönchsberg zeigt seine Installationen, das dazugehörende Rupertinum stellt seine Theater- und Opernarbeiten vor, und für die Salzburger Festspiele inszeniert er Alban Bergs Oper "Wozzeck". In seinem ausufernden, kaum fassbaren Werk existieren Theater, Film, Oper, Zeichnung und Skulptur gleichberechtigt nebeneinander. Die mediale Mischkulanz ist hier freilich kein Selbstzweck, hat stets inhaltlich-politische Hintergründe - die chinesische Kulturrevolution, den Kolonialismus, Migrationsbewegungen, vor allem aber: die Apartheid. Kentridge stammt aus einer Familie jüdischer Juristen, die jahrzehntelang dagegen ankämpften. Sein Vater war ein Anwalt von Nelson Mandela.

Schon in frühen Arbeiten entwickelte Kentridge, geboren 1955 in Johannesburg, seinen charakteristischen Stil in Animationsfilmen aus Kohlezeichnungen. Darin verwandeln sich Figuren in Ornamente, schreiten Zirkel wie Menschen durch das Bild, flattern Papierblätter von einem ärmlichen Zimmer in eine Landschaft und bedecken dort Leichen - so etwa in seinem wegweisenden Film "Felix in Exile" (1994). Dessen Grundthema ist die Apartheid, gleichzeitig ist er als dramatische Geschichte zu lesen, die zutiefst bewegt. Kentridges Arbeiten sprechen auf vielen Ebenen an, sie rühren an existenzielle Fragen, gehen damit weit über ihren Anlass hinaus. Sie sind politisch und sinnlich gleichermaßen, faszinieren Theoretiker ebenso wie ein Publikum, das ästhetische Sensationen sucht.

Dies erklärt auch den globalen Erfolg des Südafrikaners: Dreimal lud ihn die Kasseler documenta bereits ein, viermal die Biennale Venedig, seine Ausstellungen waren im New Yorker MoMA zu sehen, im Pariser Louvre, in der Londoner Tate Modern. In Kunst-Rankings steht der auch als Schauspieler ausgebildete Regisseur und Künstler hoch im Kurs, im deutschen "Kunstkompass" derzeit auf Platz acht.

Derzeit probt er im Haus für Mozart den "Wozzeck", jene Oper, deren Libretto auf einem Dramenfragment von Georg Büchner basiert. Sie dreht sich um einen ausgebeuteten Soldaten, der zum Mörder wird. Es sind intensive Tage für Kentridge. Dennoch findet er Zeit für ein Interview mit profil. Er trägt jenes Outfit, das zu seinem Markenzeichen wurde: schwarze Hose, weißes Hemd mit langen Ärmeln, trotz der Hitze, und seinen Hut, an dem man ihn schon von Weitem erkennt. Noch sei er nicht nervös, meint er, schließlich sei erst in 18 Tagen Premiere. Es fällt ohnehin schwer, sich diesen Mann nervös vorzustellen. Mit seinem breiten Lächeln, seinen tiefliegenden Augen und seinen buschigen Augenbrauen wirkt er so gelassen wie ein Gärtner im Staatsdienst kurz vor seiner Pensionierung.

Die Gewalt des Militärs und die Verzweiflung der Armut. Das musste in eine materielle Form übersetzt werden.

profil: Sie sagen, dass alles, was Sie tun, mit einer Zeichnung beginnt. Was stand am Anfang Ihrer "Wozzeck"-Inszenierung? William Kentridge: Die Gewalt des Militärs und die Verzweiflung der Armut. Das musste in eine materielle Form übersetzt werden. Die Musik des "Wozzeck" verlangte außerdem, wie ich fand, das Körnige der Kohlezeichung. Die Unklarheit, die Verschwommenheit der Kohle: Das ist wie schmutzige Luft. Die Landschaft ist sehr wichtig, denn dort hat Wozzeck eine Horrorvision - ein Schlüsselmoment in dem Stück. Einmal sagt er, dass er jetzt dort sei, wo nachts die Köpfe rollen: Die Natur verwandelt sich in ein Schlachtfeld. Das geschah tatsächlich, knapp 80 Jahre, nachdem Georg Büchner "Woyzeck" geschrieben hatte - im Ersten Weltkrieg.

profil: Welcher Aspekt Ihres Helden interessiert Sie am meisten? Kentridge: Sie gehen davon aus, dass eine Inszenierung mit dem psychologischen Verständnis der Figur beginnen müsste.

profil: Sie also nicht? Kentridge: Überhaupt nicht. Ich gehe von einer ganz anderen Prämisse aus, nämlich der Frage, was es bedeutet, Theater zu machen. Es geht nur darum, was man auf der Bühne sieht: Das ist der Motor, das lodernde Feuer. Es geht um Körper in Bewegung, nicht um Körper, die denken. Wer Wozzeck ist, wer Marie ist, in welcher Beziehung sie zueinander stehen: Das entdecken wir am Ende der Produktion, nicht aus psychologischer Einfühlung am Anfang. So etwas kann leicht blödsinnig werden.

"more sweetly play the dance", in der Grande Halle de la Villette in Paris

Theater, Oper, Skulptur, Installation, Zeichnung: Bei Kentridge geht das eine in das andere über, seine Ideen, Formen und Gestalten übertreten gern Mediengrenzen. Wenn im Museum nun seine Ausstellung aufgebaut wird, kommen entsprechend viele Techniken zum Einsatz: Eine Treppe wird mit Gafferband bearbeitet, um ein verzerrtes Alban-Berg-Porträt sichtbar zu machen. Eine hölzerne Maschine, in der Kolben auf und ab stampfen, wird installiert, Tapisserien werden an die Wand montiert, Türen in Rigipswände eingepasst. Sabine Breitwieser, Direktorin des Museums der Moderne, sagt: "Die Organisation einer großen Ausstellung mit Kentridge ist für jede Institution anspruchsvoll, auch in technischer Hinsicht." Sie kennt den Mann seit Mitte der 1990er-Jahre. "Ich habe oft mit Künstlern gearbeitet, die als schwierig gelten. Auch William ist eine Herausforderung, was die Produktion seiner Arbeiten und seiner Ausstellung betrifft. Doch es ist sehr angenehm, mit ihm zu arbeiten." Mit seiner Art der Interdisziplinarität habe er "fast so etwas wie eine neue, ganz eigene Disziplin gefunden", analysiert Breitwieser.

Die einzige Hoffnung für meine Kunst bestand darin, alles zu verlernen.

profil: Sie sind dafür berühmt, medienübergreifend zu arbeiten. Dabei waren Sie früher in dieser Hinsicht, wie Sie einmal sagten, "konservativer als jeder andere". Warum haben Sie Ihre Einstellung geändert? Kentridge: Ich war tatsächlich sehr konservativ. Ich fand, dass man entweder Zeichnung oder Film oder Theater machen sollte. Dazu rieten mir jedenfalls Freunde. Diesen vermeintlich guten Ratschlägen versuchte ich jahrelang mühsam zu folgen. Dann verstand ich: Die einzige Hoffnung für meine Kunst bestand darin, alles zu verlernen.

profil: Wie haben Sie das herausgefunden? Kentridge: Es war ein Prozess. Ich hörte auf, ein Künstler zu sein, um ein Schauspieler zu werden, und ich hörte auf, Schauspieler zu sein, um Filmemacher zu werden. So ging das weiter, bis endlich das Werk selbst entschied.

profil: In Ihren Arbeiten - etwa der Videoinstallation "More Sweetly Play the Dance" - ziehen oft Prozessionen durch das Bild. Woher kommt das? Kentridge: Was bedeutet es, sich mit eigener Körperkraft vorwärts zu bewegen? Das ist eine zutiefst politische Frage. Natürlich gibt es Busse, Flugzeuge, Züge - aber viele Menschen sind auf ihre eigene, die menschliche Maschine angewiesen, um voranzukommen. Das sah man auch in Europa, in den Bildern von Flüchtlingen, die zu Fuß unterwegs waren. Die Prozession hat ihre Wurzeln im Mittelalter, kommt auch in den Totentänzen von Hans Holbein vor. Wenn ich eine Prozession projiziere, sage ich damit: Das sind wir, nicht nur ein Ausschnitt. In "More Sweetly Play the Dance" kommen viele unterschiedliche Figuren vor, schöne Menschen, Tänzer, Totenfiguren, Ebolakranke. Die Arbeit erinnert an die Geschehnisse in Johannesburg zur Zeit ihrer Entstehung - wir können sie exakt datieren, nämlich in die Zeit der Ebola-Epidemie.

profil: Wie viel muss man wissen, um Ihre Kunst zu verstehen? Kentridge: Texte zur Kunst sind immer Fluch und Segen zugleich. Man erhält Information, wird aber daran gehindert, das Kunstwerk selbst anzuschauen, sich darauf einzulassen. Der Betrachter sollte nicht danach fragen, was er empfangen, sondern wie er selbst Bedeutung herstellen kann.

profil: Gibt es einen idealen Betrachter? Kentridge: Vielleicht. Er würde von einem Werk nicht erwarten, dass es eine einzige Dimension einer Sache darstellt. Er weiß: Dieses Kunstwerk ist ein Rätsel, für das es keine Lösung gibt.

Kunst ändert ihre Bedeutung ständig. Man kann die künstlerische Tradition nicht bis ins Letzte verstehen.

profil: Oder sehr viele. Kentridge: Kunst ändert ihre Bedeutung ständig. Man kann die künstlerische Tradition nicht bis ins Letzte verstehen. Dabei entsteht aber vieles: Wenn ich mich mit der sowjetischen Avantgardekunst befasse, benutze ich Elemente daraus, missbrauche sie sogar.

Wie viele Künstler seiner Liga ist Kentridge zum Unternehmer geworden und beschäftigt zahlreiche Mitarbeiter. "Zur Entwicklung seiner Projekte veranstaltet Kentridge in seinem Studio Workshops, und während dieser Tage essen, trinken und kochen alle Teilnehmer gemeinsam", erzählt Museumsdirektorin Breitwieser. "Mit seinem Team hat er sich eine großartige Arbeitsbasis, eine moderne Wandertruppe geschaffen." Manche seiner Angestellten fliegen mit ihm um den Globus, um bei Aufbauten und Inszenierungen zu helfen. Seit Kurzem betreibt er in Johannesburg einen experimentellen Kunstraum, das "Centre for the Less Good Idea" (Zentrum für die weniger gute Idee). So scheint er in der südafrikanischen Kunstszene zu einer Art Zentralgestirn geworden zu sein, in dessen Umfeld auch viele andere Künstler ihren Platz finden. Kentridge hält der Stadt die Treue - und jettet um die Welt.

profil: Sie haben sich im Rupertinum ein Atelier eingerichtet. Was machen Sie hier? Kentridge: Ich beginne, die Figuren zu zeichnen, die wir für den Wozzeck noch brauchen.

profil: Und wozu brauchen Sie zwei Schreibtische? Kentridge: Auf einem zeichne ich, er wird in den nächsten Tagen voller Kohle sein. Auf dem anderen mache ich Notizen.

profil: Wie kann man sich Ihr Atelier in Johannesburg vorstellen? Kentridge: Ich habe zwei: eines, in dem ich allein bin und meine Zeichnungen mache, und ein anderes, in dem ich Skulpturen, Proben und Workshops mache. Dort ist auch das Büro, dort ist viel los.

Die Dinge, die einfach und schnell gehen, funktionieren oft künstlerisch am besten.

profil: In Ihren Filmen sieht man Sie manchmal im Atelier umhergehen, Dinge zeichnen, dann wieder ausradieren. Wie sehr quält Sie Ihre Arbeit? Kentridge: Das tut sie manchmal, noch immer. Wobei es keine Garantie dafür gibt, dass es besser wird, wenn man ewig sitzt, zeichnet und grübelt. Im Gegenteil, bisweilen tötet das die Zeichnung. Die Dinge, die einfach und schnell gehen, funktionieren oft künstlerisch am besten. Wenn etwas schnell geht, entstehen unvorhersehbare Dinge.

profil: Wird die Arbeit mit der Erfahrung leichter? Kentridge: Nein. Wenn man noch nicht weiß, was man macht, was genau entstehen wird: Das ist ein schöner Zustand. Aber genau das wird mit der Erfahrung immer schwieriger.

profil: Was war denn das Letzte, das Sie erstmals gemacht haben? Kentridge: Ich habe an einer Reihe von Skulpturen gearbeitet, die formal und materiell ganz anders sind meine bisherigen. Sie sehen aus, als wären sie aufgeblasen. Und ich habe ein Kunstzentrum in Johannesburg eröffnet, mein "Centre for the Less Good Idea". Damit will ich Raum für Blödheiten schaffen, für Kollaborationen und vermischte Aktivitäten. So etwas gab es in Südafrika bisher nicht.

profil: Es gibt die uralte Frage, ob Kunst Politik oder Gesellschaft verändern könne. Was ist Ihre Antwort? Kentridge: Diese Frage stellt sich so nur, wenn man die Welt als statisch begreift. Wenn man sie als etwas betrachtet, das permanent konstruiert wird, muss man sagen: Alles was wir machen, hat mit den Büchern zu tun, die wir lesen, mit den Filmen, die wir sehen. All das prägt uns ebenso wie unsere Genetik und politischen Umstände.

"William Kentridge. Thick Time. Installationen und Inszenierungen", Museum der Moderne, 29. Juli bis 5. November, museumdermoderne.at

"Alban Berg. Wozzeck", Premiere (ausverkauft): 8. August. Weitere Vorstellungen: 14., 17., 24., 27. August, salzburgerfestspiele.at

Nina   Schedlmayer

Nina Schedlmayer