Szenenbild aus Olivia Wildes „Booksmart“

Künstliche Intelligenz: Die Viennale 2019 nimmt Betrieb auf

Wiens internationales Filmfestival nimmt diese Woche wieder seinen Betrieb auf. Der Vertrag mit Viennale-Chefin Eva Sangiorgi war schon im Vorfeld bis 2026 verlängert worden. Wollte man sie möglichst schnell an Wien binden?

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Starr sitzt der junge Mann im Bild, ein irrlichterndes Auge weit aufgerissen. Der Rest seines Gesichts ist verpixelt, seine Mimik nur erahnbar. Die Befragung eines katatonisch-schizophrenen Psychiatriepatienten in Los Angeles 1961 steht im Zentrum des gespenstischen Trailers, der die Viennale 2019 ankündigt; er wurde von der argentinischen Filmkünstlerin Lucrecia Martel („La ciénaga“, „Zama“) gestaltet. Die Grenzen zwischen Dokument und Fiktion werden darin auf irritierende Weise niedergerissen: Wie eine abgründige Performance mutet der Auftritt des anonymen Patienten an, der wie Anthony Perkins als schwer persönlichkeitsgestörter Norman Bates in Hitchcocks „Psycho“ (1960) in zwei Stimmen mit sich selbst zu sprechen scheint. Martels Viennale-Clip heißt „AI“, und das ist wörtlich zu nehmen: Das Kino ist – als synthetische Kunstform, die sowohl das analytische Denken als auch wilde Wachträume mobilisieren kann – eine künstliche Intelligenz. Sie spricht nicht nur zu uns, sondern auch, vielleicht vor allem, mit sich selbst.

Eva Sangiorgi, 41, hat diesen Trailer in Auftrag gegeben – und er passt perfekt zum diesjährigen Programm. Die gebürtige Italienerin, die zuvor das renommierte Ficunam-Festival in Mexico City geleitet hat, war im Jänner 2018, nach einer viel zu späten Ausschreibung als Nachfolgerin des überraschend verstorbenen Hans Hurch zur Viennale-Direktorin designiert worden. Der Zeitdruck war enorm: Bis März musste Sangiorgi noch ihr eigenes Festival abwickeln, ehe sie im April letzten Jahres nach Wien ziehen und in wenigen Monaten ihre eigene Version der Viennale ins Leben rufen konnte. Zu ihren allerersten Reformideen gehörte der Wunsch, die alte Trennung zwischen Spiel- und Dokumentarfilmen aufzuheben.

Von Jessica Hausners botanischer Science-Fiction-Fantasie „Little Joe“ über die Retrospektiven der Arbeiten Angela Schanelecs und der Austro-Kinopionierin Louise Kolm-Fleck bis hin zu Agnès Vardas Abschiedsfilm und Sabine Derflingers Politdoku „Die Dohnal“: Die starke weibliche Präsenz ist heuer unübersehbar. Man könnte dies als Reaktion auf die da und dort laut gewordene Kritik lesen, die letztes Jahr an den fast durchgängig männlich besetzten Nebenreihen geübt wurde. „Reaktion würde ich es nicht nennen“, sagt Sangiorgi, „aber es stellte mich selbst nicht zufrieden. Ich suchte also noch intensiver nach starken Regisseurinnen. Trotz dieses Bewusstseins lässt sich ein Geschlechtergleichgewicht schwer herstellen – weil es zwar sehr viele gute, aber leider bei Weitem nicht genügend Filme von Frauen gibt.“

Mit Céline Sciammas „Porträt einer jungen Frau in Flammen“, dem klinischen Liebesdrama einer Malerin und ihres Modells, den Eröffnungsabend im Gartenbaukino am Donnerstag dieser Woche zu bestreiten, ist jedenfalls mutig. Denn dieser Gala werden, wie stets, auch der Cinephilie in der Regel ferne Sponsorengäste, Kultur- und Polit-Adabeis beiwohnen: Ob sie viel Freude an Sciammas raffinierten kunstgeschichtlichen Exkursen haben werden, bleibt abzuwarten.

"Weniger Filme"

Das überbordende, viele auch überfordernde Festivalangebot ein wenig zu reduzieren, war Sangiorgi wichtig: „Es sind weniger Filme, ja, und wir haben die Viennale auch um einen Tag verkürzt.“ Darin liegt allerdings auch das Risiko herabgesetzter Kinobesuchszahlen. Ein gewisser Druck sei zu spüren, „denn da geht es natürlich um Einnahmen, um die Balance von Subvention und Eigenleistung. Aber es ist eine Herausforderung, neues Publikum zu gewinnen; wir werden heuer vermehrt Schulen und – auch ausländische – Universitäten einbinden, denn was soll aus der Kollektiverfahrung des Kinos werden, wenn keine jungen Filmbegeisterten mehr nachrücken?“

Die Viennale operiert mit einem Budget von knapp drei Millionen Euro – ein bisschen weniger als im Vorjahr, da sich die Sponsorenleistung leicht verringert hat. Um politische Schärfe ist Eva Sangiorgi bemüht: Sie trage als Leiterin einer kulturellen Veranstaltung „selbstverständlich die Verantwortung, über das Ästhetische der Filme hinaus auch das Ethische zu sehen“. Filmproduktionen und -festivals seien bekanntlich alles andere als ökologisch wertvoll. „Ideell aber ist das Kino ein großartiges soziales Instrument, hier treffen Menschen aus aller Welt zusammen, und die Viennale ist auch eine Agora, in der sich alle Beteiligten nicht nur an der Schönheit des Gezeigten erfreuen, sondern sich zum Denken und Debattieren anregen lassen. Die Filme dieses Festivals sind keine isolierten Ereignisse mehr, sie sprechen zueinander, entwickeln Energien und Spiegelungen.“ Sie bleibt dabei, auch wenn man sie konkreter fragt: Als Statement gegen die politische Stagnation und den dominanten Rechtspopulismus in Österreich sehe sie ihr Festival „natürlich“: als Widerrede „gegen menschenfeindliche Politik, in Österreich, Europa und in vielen Teilen des Rests der Welt“.

Vertragsverlängerung mit Sangiorgi

In Eva Sangiorgi hat man eine sympathische und cinephile Persönlichkeit für die Viennale gefunden, zudem eine erstklassige Kommunikatorin. Aber sie ist ehrgeizig und international umworben. Überraschend schnell kam, vielleicht auch deshalb, vor wenigen Wochen die Nachricht von der Verlängerung des (ursprünglich auf drei Jahre befristeten) Vertrags Sangiorgis um fünf weitere Jahre, bis März 2026, er gilt nun also für die kommenden sieben Festivals. Gab es alternative Jobangebote, die sie vielleicht – zur schnelleren Entscheidung – in den Verhandlungsverlauf einbringen konnte? Über das renommierte und deutlich größere Festival in Rotterdam etwa wird im Dezember entschieden. „Nein“, winkt Sangiorgi ab, „ich habe kein wirklich spannendes alternatives Angebot erhalten, schon gar nicht aus Rotterdam. Ich wollte einfach eine Perspektive mit diesem Festival haben, über die festgelegten drei Jahre meines ursprünglichen Vertrags hinaus. Ich bin glücklich und stolz, für die Viennale zu arbeiten – und ehrlich gesagt mag ich die deutsche Sprache auch viel lieber als das Niederländische.“

Wiens Kulturstadträtin Veronica Kaup-Hasler betont im Gespräch mit profil, dass Sangiorgis langfristige Bindung ein „eigentlich banaler Vorgang gewesen“ sei; das Kuratorium der Viennale habe sie schlicht gebeten, der Verlängerung zuzustimmen. Von einem etwaigen Druck durch die mögliche Abwerbung der gefragten Viennale-Chefin habe sie jedenfalls nichts gehört. Im Vorstand des weiterhin nicht als GmbH geführten, also völlig autonom agierenden Vereins sitzen Franz Schwartz, der nach Hans Hurchs Tod im Juli 2017 das Festival ein Jahr lang interimistisch leitete, die Kulturmanagerin Ingrid Kapsch, die Journalistin Gabriele Flossmann und ihr Kollege Armin Thurnher.

Das vom Boulevard („oe24“) unlängst lancierte Gerücht, demzufolge Bürgermeister Michael Ludwig vorhabe, die Wiener SPÖ „personell neu aufzustellen“ und daher die beiden Stadträtinnen Ulli Sima (zuständig für Umwelt) sowie Veronica Kaup-Hasler (Kultur) „auszutauschen“ plane, hält Letztere übrigens für eine „klassische Zeitungsente“. Ihr Einvernehmen mit dem Bürgermeister sei „hervorragend“ – und: „Es gäbe keinen Grund, an seinem Rückhalt zu zweifeln.“

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.