Die Ärzte im Interview: "Ich könnte kotzen vor Wut"
Treffpunkt Columbiahalle, Berlin, Mitte August. Gegenüber dem ehemaligen Luftbrücken-Flughafen Tempelhof liegt nicht nur die legendäre, coronabedingt verwaiste Konzert-Location, ums Eck hat auch Hot Action Records, die hauseigene Plattenfirma der Band Die Ärzte, ihren Sitz. Seit fast vier Jahrzehnten zählt das Berliner Trio zu den erfolgreichsten deutschsprachigen Pop-Acts. Nun, ausgerechnet im Jahr der großen Ungewissheiten, bitten die Rockstars Farin Urlaub, Bela B und Rodrigo González im Backstagebereich der Halle (und nach strengem Desinfektionsprotokoll) zum gemeinsamen Interview auf Mindestabstand. Nach acht langen Jahren - ein kleines Popwunder - ist nun nach Trennungsgerüchten, internen Querelen und ausgedehnten Soloaktivitäten das 14. Studioalbum der vor 38 Jahren gegründeten Fun-Punk-Institution erschienen. Zweideutiger Titel der Songsammlung: "Hell".
profil: In den letzten Jahren dachten viele, dass Die Ärzte als Band bereits abgedankt hatten. Überrascht es Sie selbst, dass Sie noch einmal zusammengefunden haben?
Bela B: Je erfolgreicher wir sind, desto anstrengender wird es. Irgendwann geht es fast jeder Band so, dass sie nur noch im Kreislauf aus Albumaufnahmen, Tournee und Promotion existiert. Nach dem letzten Album war es zu viel Müssen und zu wenig Wollen. Es gab Animositäten-und unterschiedliche Sichtweisen, wie wir als Band weitermachen wollen.
Urlaub: Nach der großen Tour 2013 brauchten wir dringend Abstand. Dazu kam die Unfähigkeit, wie erwachsene Männer zu kommunizieren. Nach einem Jahr Funkstille haben wir ein gemeinsames Essen veranstaltet und uns wieder zusammengerauft. Das wiederholen wir jetzt jedes Jahr.
González: Mein Problem waren diese großen Stadionkonzerte. Irgendwann spulst du nur noch ein fertiges Programm ab, spielst die Hits und kannst die Uhr danach stellen, wann wieder die La-Ola-Welle durch die Arena geht.
profil: War die Magie plötzlich weg?
Bela B: Routine und Die Ärzte haben sich noch nie gut vertragen. Bei uns wirkt gut Eingespieltes schnell lustlos. Wir haben zwar seit 20 Jahren unsere eigene Plattenfirma, wollten immer autark sein, dennoch ist die Band für uns kein Unternehmen, keine Maschine, mit der man an die Börse gehen möchte.
Urlaub: Wir wollten immer das Gefühl einer Club-Show auf die große Bühne heben. Stadionkonzerte sind oft mehr Dienst am Kunden als Spaß für die Band.
Bela B: Aber auch an schlechten Tagen spielen wir lange Konzerte und versuchen uns nicht zu wiederholen. Fällt uns nichts ein, spielen wir spontan irgendein ewig nicht gespieltes Lied und retten so die Stimmung.
profil: Inmitten der großen Flüchtlingsbewegung 2015 stieg Ihr alter Anti-Nazi-Song "Schrei nach Liebe" aus den frühen 1990er-Jahren in Deutschland und Österreich auf Platz eins, in der Schweiz auf Platz zwei der Charts. War das ein Antrieb, als Band weiterzumachen?
Bela B: Auf diese Fanaktion sind wir sehr stolz. Der Song hat uns zumindest wieder gemeinsam auf eine Bühne gebracht. Das war 2016 bei einem kleinen Festival in Jamel in Mecklenburg, in dem hauptsächlich Neonazis leben. Ich hab Farin und Rod dann überredet, dort gemeinsam dieses Lied zu spielen.
Urlaub: Der Song ist ohnehin viel größer als die Band. Die Tantiemen haben wir an verschiedene NGOs gespendet, die sich gegen Rechtsextremismus engagieren.
profil: "Hell" ist allerdings kein dezidiert politisches Album geworden.
Bela B: Wir sind keine Journalisten und keine Nachrichtensendung. Wir sind Musiker, die in drei Minuten Geschichten erzählen, manchmal schlagwortartig, manchmal dadaistisch, gelegentlich ausufernd oder lyrisch. Die politischen Themen, die wir auf dem Album verhandeln-von Wutbürgern, Verschwörungstheorien bis zum Krieg in Syrien-,werden als Teil unserer Lebenswirklichkeit erzählt. Selbst so albern klingende Songs wie "Thor" sind Teil unserer Selbstreflexion. Unpolitisch sind wir definitiv nicht-das ist für mich als Künstler auch keine Option.
Urlaub: Die Positionierung von "Schrei nach Liebe" war 1993 wichtig. Die Misere hat sich ja seither nicht verändert, auch die Nazis sind geblieben. Sie sind immer noch gegen Empathie, Nächstenliebe und Fairness. Heute lassen wir uns über andere Facetten aus-oder machen uns darüber lustig.
Bela B: Wir wollten nie mit dem erhobenen Zeigefinger herumrennen, Parolen skandieren und Polithymnen schreiben.
Glaubt man "Morgens Pauken", der ersten Single aus "Hell",dann scheint es um den Punk anno 2020 nicht gut bestellt zu sein. Denn inzwischen sei, so die Bestandsaufnahme, ohnehin alles Subkultur und Nonkonformismus-oder was man dafür hält. "Du betrügst bei Blinde Kuh / Und du likest die CDU / Hast 'nen Pelzmantel im Schrank / Du bist Punk!", heißt es im Song. Das Trio antwortet darauf mit einem ordentlichen Brett Punkrock; die insgesamt 18 neuen Lieder gehen jedoch fröhlich assoziierend in viele Richtungen: von Flamenco-Spielereien("True Romance") und Mitsing-Gitarrengeschrammel ("Ich, am Strand")zu Gassenhauer-Rock("Einmal ein Bier") und Dark-Wave-Versatzstücken ("Polyester"). "Hell", das entweder die Hölle oder das Gegenteil von dunkel meint, bleibt aber bei aller musikalischen Vielschichtigkeit ein durchaus homogenes Album.
profil: In Ihrem Song "Woodburger" geht es um die Fantasie, in die AfD einzutreten, um deren Mitglieder und Wähler zu bekehren. Ist das so etwas wie ein Aufruf, mit Rechten zu reden-oder sie gar zu verstehen?
Urlaub: Wenn ich die Texte derart gründlich analysierte, würden sie nie fertig werden. Das Lied ist keine Gebrauchsanweisung zu dem Versuch, Leute vom rechten Rand zurückzuholen. Es ist ein dreiminütiger Popsong, der möglichst unterhaltsam sein und sich über die Partei lustig machen will.
profil: Auf "Hell" herrscht enorme Stilvielfalt. Ist es mit den Jahren einfacher geworden, Kompromisse zu finden?
Bela B: Tatsächlich sind wir heute vernünftiger und ziehen mehr am gemeinsamen Strang. Aus Aktualitätsgründen haben wir uns dafür entschieden, "Fexxo Cigol", einen Song über Verschwörungstheorien, doch noch auf das Album zu geben. Auch "Plan B" hätte es fast nicht auf das Album geschafft-aber wir dachten eben, dass es eben keinen Plan B für uns und auch nicht für diese Welt gibt.
profil: Jeder von Ihnen ist auch in andere Projekte verstrickt, in anderen Bands aktiv. Warum finden Sie doch immer wieder zusammen?
González: Die Ärzte genießen die anarchische Freiheit, alles machen zu können, ohne bestimmte Erwartungen erfüllen zu müssen. Bei der Punkband Abwärts, der ich auch angehöre, wäre das nicht möglich.
Bela B: Die Ärzte schreiben 18 unterschiedliche Lieder, die aber doch zusammen einen Stil ergeben, den nur Die Ärzte so spielen können. "Hell" beginnt mit Trap und endet mit Seventies-Funk-Soul-und dazwischen gibt es noch Seltsameres, plus Punkrock. Wir folgen keinem Zeitgeist und bestimmen ihn auch nicht.
profil: 2019 veröffentlichten Sie den Song "Abschied", in dem es heißt, dass es besser für die Erde wäre, wenn die Menschheit endlich verschwände. Dann kam die Pandemie. War das gute Intuition?
González: Ironie des Schicksals.
Bela B: "Abschied" kam zwar heraus, als die Klimabewegungen Fridays for Future und Extinction Rebellion groß wurden. Farin hatte den Song aber schon früher geschrieben.
Urlaub: Inspiriert hat mich das Buch "The Sixth Extinction" ("Das sechste Sterben"),in dem es um die großen Umbrüche auf der Erde geht. Da kam mir zum ersten Mal der Epochenbegriff Anthropozän unter. Wir Menschen sind auf diesem Planeten zwar nichts als Ameisen, aber wenn wir alle zusammen gigantische Umweltsauereien verursachen, kommt es eben kumulativ zu Veränderungen des Erdklimas. Einen richtig traurigen Krisensong wollte ich dennoch nicht schreiben-die Musik bleibt ja positiv und lebensbejahend .
profil: Werden die jungen Klimabewegungen die Corona-Krise überstehen?
Urlaub: Die kommen wieder. Die Messe ist erst aus, wenn die Kirchenglocken läuten.
Wenn sich Die Ärzte ungeplant zu Wort melden, ist die Lage in der Regel kompliziert, aber nicht hoffnungslos. Am 27. März dieses Jahres, inmitten des Lockdowns, veröffentlichte die Band ihren Krisensong "Ein Lied für jetzt", den sie in getrennten Wohnungen mit Mobiltelefonen aufgenommen hatte. "Die Kanzlerin sagt 'Bela bitte bleib zu Haus' / Es gibt doch jeden Tag jetzt 'Die Sendung mit der Maus'", heißt es im Lied. Ein bisschen Quarantäne, so die Botschaft des Songs, sei nicht die schlimmste Sache der Welt-und in Krisenzeiten gehe es vor allem um Solidarität. "Ein Lied für Händewaschen. Für anderthalb Meter. Für die Armbeuge. Ein Lied für Krankenschwestern und-brüder. Für den Bereitschaftsdienst. Ein Lied für Johns Hopkins. Für Robert Koch. Für Christian Drosten. Für Max Planck." Und weil man im eigenen Homeoffice-Krisenmodus gerne auf andere Tragödien vergisst, weist man singend gleich auch noch auf die fatale Situation im griechischen Flüchtlingslager Moria hin.
profil: In "Leben vor dem Tod",der einzigen Ballade des neuen Albums, werden existenzielle Fragen verhandelt. Zeit für Pathos?
Urlaub: Das ist wie in Ridley Scotts Science-Fiction-Klassiker "Blade Runner".Im Grunde wollte der Protagonist nur Antworten auf die großen Fragen: Woher komme ich? Wohin gehe ich? Wie viel Zeit bleibt mir noch? Mit "Leben vor dem Tod" wollte ich das direkteste und unmittelbarste Liebeslied schreiben. Es gibt nur ganz wenig Musik, sehr dichten, intimen Gesang-keine ironischen Brechungen, einfach nur das Herz ausschütten.
Bela B: Wir werden älter, beschäftigen uns mit dem eigenen Verfall, ich sitze weniger in der Kneipe herum. Auf "Hell" gibt es eine größere thematische Vielseitigkeit. Bei der "Jazz ist anders"-Platte von 2007 war das noch anders-da waren die Themen sehr selbstreferenziell.
profil: Würden Sie Lieder wie "Helmut K.",in dem Sie davon fantasieren, dass der damalige deutsche Kanzler seine Frau schlägt, heute noch so schreiben?
Bela B: Ich empfand Political Correctness in der Arbeit dieser Band immer als Hemmschuh. Es ging uns aber nie darum, Menschen bloß herabzusetzen und zu beleidigen. Die neue Platte ist bestimmt nicht politisch korrekt, und dennoch tut sie den Leuten, denen wir nicht wehtun wollen, auch nicht weh. Auf der anderen Seite empfinde ich diese Achtsamkeit aber auch als neue Freiheit. Ich setze mich mit politischer Korrektheit auch in anderen Bereichen des Lebens auseinander. Als Fan des Hamburger FC St. Pauli gilt das Credo, dass man auf seine Sprache achtet, dass man nicht sexistisch ist, nicht homophob. Das hat einen sehr entspannenden Effekt auf das Klima im Stadion.
Die Ärzte wurden 1982 von Bela B (Dirk Felsenheimer), heute 57, und Farin Urlaub (Jan Vetter),56, in West-Berlin gegründet. 1988 löste man die Band auf, widmete sich zwischen Mauerfall und deutscher Wiedervereinigung anderen Projekten und kehrte 1993 mit neuem Bassisten (Rodrigo González, 52) und der Single "Schrei nach Liebe" zurück. Der Song, der den wiederaufflammenden Rechtsextremismus in Deutschland thematisiert, ist bis heute ihr wichtigstes Lied. Während Urlaub einen Gutteil seiner Freizeit auf Reisen verbringt und Fotobände über Indien, Bhutan, Australien und Afrika veröffentlicht hat, tritt Horror-und Countryfan Bela B vor allem als Schauspieler("M-Eine Stadt sucht einen Mörder"),Hörspielsprecher und Autor (2019 erschien sein Debütroman "Scharnow")in Erscheinung. Der gebürtige Chilene und Multiinstrumentalist González, dessen Eltern von der Pinochet-Diktatur verfolgt wurden und in den 1970er-Jahren in Hamburg Asyl bekamen, betreibt in Berlin sein eigenes Tonstudio. 2016 erschien sein Dokumentarfilm "El Viaje" ("Die Reise").
profil: Ihr Inzest-Song "Geschwisterliebe" steht immer noch auf dem Index, darf nicht verkauft oder gestreamt werden. Mögen Sie ihn noch?
Urlaub: Heute würden wir ihn anders schreiben. Wir sind älter, können besser mit Worten umgehen. "Geschwisterliebe" habe ich mit 15 geschrieben. Zu der Zeit hatte ich noch nicht einmal richtigen Sex, mir war auch nicht bewusst, dass das Lied zensuriert werden könnte. Ich wusste nur, dass das ziemlich verrucht ist, was ich da gerade schreibe.
profil: Zurzeit kursiert im Internet ein Video, in dem Sie bei einem Konzert, das 1987 live im TV übertragen wurde, über die Ermordung des CDU-Politikers Uwe Barschel Witze machen. Der junge Günther Jauch musste sich danach live im Bayerischen Rundfunk für Ihren Auftritt entschuldigen.
Bela B: Wir haben von dem Tod Barschels direkt vor dem Auftritt erfahren. Wir wussten ja nicht einmal, wie er gestorben war.
Urlaub: Die Barschel-Sache war reine Logorrhö-ein spontaner Blödsinn. Die meisten Provokationen waren uns überhaupt nicht bewusst. Wir wollten Spaß haben und möglichst absurd sein-das waren halt wir. Wir hatten damals unsere Gründe, die waren vielleicht nicht immer bis zum Ende durchdacht, aber das war ja auch der ungestümen Jugend geschuldet.
profil: Sie sind erst seit Kurzem auf Streaminganbietern wie Spotify verfügbar. Hat Popmusik viel von ihrer Aura verloren, seit alles jederzeit verfügbar ist?
Urlaub: Natürlich, da muss man nicht um den heißen Brei herumreden. Wir haben uns auch sehr lange dagegen gewehrt. Aber wenn du als Künstler irgendwann gar nicht mehr gehört wirst, ist das natürlich ein Problem.
Bela B: Sehr viele Kinder wachsen mit keinem anderen Medium als dem Netz mehr auf. Die Frage ist: Will man als Band mit den Songs irgendwann verschwinden? Wir nicht.
González: Mich regt dieses Streaming jedes Mal auf. Hass, Hass, Hass. Diese schlechte Qualität, es fehlt an Informationen, und die Covers sind so groß wie Briefmarken. Ich könnte kotzen vor Wut.
Hinter der Geschichte
Die Ärzte (die selbsterklärte beste Band der Welt) verfolgt Philip Dulle seit 1993, seit dem Comeback-Album "Die Bestie in Menschengestalt". Die CD mit dem kleinen roten Teufel auf dem Coverbild wurde in der Kärntner Landvolksschule heimlich von Tisch zu Tisch gereicht, auf Kassette überspielt und die Texte nach der Schule auswendig gelernt. Die drei Musiker hat der Autor in den letzten Jahren öfter zum Interview getroffen-das vorliegende ist allerdings das erste, das er mit der ganzen Band führen konnte. Unübertroffenes Die-Ärzte-Konzert: 2002 im burgenländischen Wiesen, bei dem Dulle einen der Drumsticks, die Bela B ins Publikum warf, fangen konnte.
Die Ärzte "Hell" (Hot Action Records) erscheint als Stream, CD und als 64-seitiges 181-Gramm-Doppelvinyl-Buch.