Kultur und Corona: Ist Kunst tatsächlich systemrelevant?
Der hohe Ton scheint zum Beruf eines Intendanten zu gehören: große Worte, die von der eigenen Bedeutung künden. Weihrauch, der das eigene Tun umweht. Pünktlich zum zweiten Lockdown ließ Burgtheaterdirektor Martin Kušej ein Statement aussenden, in dem es - nicht sonderlich überraschend - hieß, dass Kunst Nahrung für alle sei. Und natürlich sei Kunst "systemrelevant". Um dies zu untermauern, verwehrte sich Kušej entschieden dagegen, mit Orten wie Spielhallen, Wettbüros, Bordellen und Paintballanlagen, die bloß der "Freizeitgestaltung" dienten, in einen Topf geworfen zu werden.
Elitäre Kunsttempel
Aus diesen Worten spricht Überheblichkeit. Die Theater brüsten sich zwar gern damit, dass sie für alle da sind, aber im Grunde sind sie nach wie vor recht elitäre Kunsttempel. Sie schreiben sich eine Bedeutung zu, die sie nicht haben. Man verlässt eine Inszenierung im Burgtheater nicht automatisch als besserer Mensch. Für viele ist auch ein Theaterbesuch bloß Freizeitgestaltung. Und das ist legitim. Die aktuelle Pandemie trifft viele Bereiche, aber die Hochkultur schreit am lautesten. Sie grenzt sich in einer Situation, in der Solidarität gefragt wäre, von anderen ab.
Fehlende Solidarität
Der Schweizer Journalist Tobi Müller forderte vor wenigen Tagen in einem Kommentar in der "Zeit" Gesten der Solidarität statt Beschwörung des "Menschenrechts" auf Kunst quasi von der Kanzel herab. Warum kooperieren staatlich hochsubventionierte Museen und Theater nicht öfter mit Konzertveranstaltern und Clubbetreiberinnen, die meist kaum Subventionen haben, aber gerade jetzt große, luftige Räume bräuchten?
Die leitenden Figuren in Theatern und Opernhäusern würden, statt sich zu öffnen, gern einfach dort weitermachen, wo sie durch Corona unterbrochen wurden. Vielleicht sind unsere Hochkulturtempel ja tatsächlich systemrelevanter, als wir denken - aber in keinem positiven Sinn: Sie sind konservativ, halten am Bestehenden fest und reproduzieren allzu oft überkommene hierarchische Strukturen. Das ungesunde Geniedenken in einem Klima der Angst lässt auch weiterhin sexistische Übergriffe zu. Es wäre an der Zeit, die Pandemie zu nutzen, veraltete Modelle zu überdenken, sich neu zu positionieren, nicht auf hohle Phrasen zu setzen.
Doppelmoral
Der erste Schritt dazu wäre freilich, erst einmal zu erkennen, dass man nicht grundsätzlich besser ist als andere. Die deutsche Medienwissenschafterin Sarah Waterfeld hat unlängst einen Essay geschrieben, der auf der Online-Plattform nachtkritik.de nachzulesen ist. Darin enttarnt sie ein bezeichnendes Beispiel von Doppelmoral: Am Berliner Ensemble wurde unlängst ein Stück über Wohnungslosigkeit inszeniert, in dem real Obdachlose auftreten. Von der Deutschen Bank, die in Los Angeles aufgrund ihrer brutalen Entmietungspraxis längst als "Slumlord" gilt, ließ man sich dafür Geld zuschießen. Artwashing nennt man diese Methode, von der auch die Salzburger Festspiele, die sich von Unternehmen wie Gazprom und Nestlé finanzieren lassen, ein Lied singen können.