profil-Kulturhauptstadtserie: Die roten Fäden, die uns an die Vergangenheit fesseln
Von Wolfgang Paterno
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Es ist der Moment, in dem man Johannes Staudinger beim Schrumpfen zusehen kann. Staudinger sitzt auf seinem Faltrad mit 16-Zoll-Laufrädern. Es geht weitschweifig durch Bad Ischl, rauf und runter, links und rechts. Staudinger tritt in die Pedale. Bald ist er eine winzige Figur auf einem Fahrrad.
Staudinger, 53, hat in Bad Ischl eine Zweiradtour auf historischen Spuren erfunden, einen der vielen Programmpunkte im laufenden Kulturhauptstadtjahr, das viele Bühnen bereithält, im Wasser, auf dem Land, in der Luft. „Touren von Willy-Fred“ nennt sich die Rundfahrt in Erinnerung an eine lose verbundene Widerstandsgruppe im Salzkammergut in der Zeit des Nationalsozialismus. Fünf unterschiedliche Touren, manche davon knapp 100 Kilometer lang, sind vor allem dem Andenken der lokalen NS-Widerständlerinnen gewidmet, denen das Fahrrad Fortbewegungs- und Transportmittel war.
Zwölf Kilometer und 14 Stationen umfasst der Streifzug durch Bad Ischl. Der Name Theresia Pesendorfer (1902–1989) fällt dabei immer wieder. „Resi war die umtriebigste und fleißigste aller Widerstandskämpferinnen auf dem Fahrrad“, sagt Staudinger vor dem mintgrünen Haus in der Eglmoosgasse 11, einem der vielen ehemaligen klandestinen Willy-Fred-Treffpunkte. Staudinger klingt dabei mehr nach Radfahrer als nach Historiker, der er tatsächlich auch ist: Staudinger ist Biker aus Passion, vor einigen Jahren legte er 5000 Kilometer auf dem Zweirad quer durch Europa zurück, seit 2022 leitet er als eine Mischung aus Hausmeister und guter Geist das Linzer Velodrom, Österreichs einzige Freiluftradrennbahn. Staudinger kennt viele Namen und Geschichten, er hangelt sich entlang biografischer und zeitgeschichtlicher Fakten, baut dabei auf die Vorarbeit der Aktion „Stecknadeln der Erinnerung“. Bereits vor zwei Jahren, beim „Festival der Regionen“, wurden die roten Erinnerungsmahnmale mit QR-Code in die vom Nationalsozialismus kontaminierte Landschaft gerammt. Ohne viel Federlesen hat sich die Kulturhauptstadt die „Stecknadeln der Erinnerung“ als „assoziiertes Projekt“ einverleibt. Wer 200 Unternehmungen und Veranstaltungen das Jahr über im Talon hat, darf nicht zimperlich sein. Gleich nebenan, in der Eglmoosgasse 9, klafft eine historische Leerstelle an der Hauswand, über die später noch zu reden sein wird.
Stille und Ahnungslosigkeit
„Wie so ein Nachtfalter kam ich mir oft vor“, erinnerte sich Resi Pesendorfer an ihre lebensgefährlichen Fahrradbotengänge und Fluchthilfeaktionen. Ein hakenschlagendes Davonfahren vor den NS-Besatzern und den Denunzianten. Jahrzehntelang war Pesendorfers Geschichte von Stille und Ahnungslosigkeit überdeckt. Die „Touren von Willy-Fred“ erinnern an eine Zeit, die in Bad Ischl – wie in vielen anderen Regionen dieses Landes – noch immer durch Verschweigen und Verschlampen geprägt ist, in der die roten Fäden vieler Lebensläufe durchschnitten wurden. Staudinger steigt in die Pedale. Er strampelt den Erinnerungsviertelmarathon durch Ischl.
Viele rote Fäden ziehen sich dieser Tage durchs Salzkammergut. Der längste misst rund 280 Kilometer und ergießt sich in einer Installation der japanischen Künstlerin Chiharu Shiota als tiefroter Kunststoff-Fadenregen in die steingraue Kubatur der ehemaligen Stollenanlage des Konzentrationslagers in Ebensee. In Lauffen wiederum, wenige Autominuten von Bad Ischl entfernt, wird in der Ausstellung „Das Leben der Dinge“ an Kunstraub und Restitution erinnert. Rote Fäden auch hier.
Man darf sich das Kulturhauptstadtjahr, um im Bild zu bleiben, durchaus als gigantische Spindel vorstellen, die in den 23 beteiligten Städten und Gemeinden viele verschiedene Fäden auswirft und jede Menge Fährten legt. Manches davon verknüpft sich zum tragfähigen Netz, anderes verläuft im Leeren. Ende des Fadens. Wie neulich in Bad Goisern, als in einer Kulturhauptstadtaktion des Wiener Künstlers
Alfredo Barsuglia ein Wohnzimmer mit Teddybär und Porzellangedeck vergraben wurde, das im Herbst wieder ausgebuddelt werden soll. Eine Gras-wächst-drüber-Performance, die leider nahezu ohne Publikum auskommen musste.
Im Idealfall kommt im Salzkammergut dennoch einiges zusammen. Beim sogenannten Kaiser-Jagdstandbild etwas außerhalb des Ischler Zentrums trafen sich einst die Willy-Fred-Fahrradpartisaninnen, wohin auch einer der Wege mit Schnellfahrer Staudinger führt. Heute ist das Kitsch-Monument, das einen für die Ewigkeit erstarrten Franz Joseph als Jägersmann samt erlegtem Hirsch zeigt, beliebter Tourismustreffpunkt. Wir sind mit dem Radl da, was für Emotionen sorgt und für die Reflexionen gleich dazu.
Müsste man einen Ort nennen, in dem das Phänomen „Erinnerungskultur“ erfunden worden sein könnte, Bad Ischl spielte ganz vorn mit. Hier wird an Häuserwänden daran erinnert, dass Schriftsteller zwischen Bergen und Seen Urlaub machten, Schauspieler gern in Kaffeehäusern saßen, Franz Joseph und Sisi in der Kaiservilla Wunder was erlebten. Eher unwillig aktivierte man das Gedächtnis für Geschichten wie jene von Resi Pesendorfer. Erst 2021 erschien das Bändchen „… dass man nicht ganz umsonst auf der Welt ist“ mit Pesendorfers übersehenem Lebenslauf, herausgeben von der örtlichen Buchhandlung „Kurdirektion“, die sich gegen das kollektive Vergessen stemmt, in der man gern Kappen mit dem Logo „voll kultur – null hauptstadt“ trägt. Am Donnerstag kommender Woche wird im Rahmen der Europäischen Kulturhauptstadt ein nach Theresia Pesendorfer benannter Platz beim Musikpavillon im Bad Ischler Kurpark eröffnet. An der Hauswand in der Eglmoosgasse 9, einer der Willy-Fred-Stationen, öffnet sich derweil ein Spalt in die Gegenwart. Das Hinweisschild an den Schriftsteller, Widerstandskämpfer und Auschwitz-Überlebenden Jean Améry, der in dem Haus seine Kindheit verbrachte, wurde kurzerhand entfernt.
Opulenz schlägt Dezenz
Weiter nach Ebensee, Stollenanlage B am Fuß des Seebergs. Das Konzentrationslager Ebensee wurde am 18. November 1943 mit der Deportation von 63 Häftlingen errichtet. Im Salzkammergut sollte eine unterirdische Raketenrüstungsfabrik betrieben werden; 27.000 Gefangene aus mehr als 20 europäischen Ländern wurden gezwungen, unter unvorstellbaren Arbeitsbedingungen verzweigte Stollenanlagen in den Berg zu treiben. 8500 Todesopfer, die unter den entsetzlichen Bedingungen und der Herrschaft einer grausamen Lagerleitung starben, sind namentlich bekannt. 230 Todesopfer der NS-Diktatur in Ebensee sind noch immer ohne Namen.
Es ist nicht ganz einfach, die schwebenden Kleider inmitten des roten Fadenmeers, das Chiharu Shiota in der Stollenanlage B auf einer Länge von 70 Metern zeigt, zu dechiffrieren. Die peinigende Leere des Stollens, in dem einst jedes Maß an Menschlichkeit verloren ging, füllt nun farbensatte Wucht. Opulenz schlägt Dezenz. Monumentalität triumphiert über Zerbrechlichkeit. Vielleicht versucht Chiharu Shiota mit den im blutroten Fadennetz
gut verborgenen 25 Frauenkleidern einen Ursache-Wirkung-Bogen über 80 Jahre hinweg zu spannen? Leben und Sterben als Totentanz? Der Mensch und seine Häute? Die inneren und äußeren Verkleidungen? Der Mensch vergeht, seine Kleidung besteht?
Auf der Website der KZ-Gedenkstätte ist ein Text von Elfriede Jelinek zu lesen, der vieles von dem verbindet, was wohl auch Chiharu Shiota mit ihrer Fadenflut zu verknüpfen versucht: „Wie kann man Erinnertes fassen, an das man sich selbst gar nicht erinnern kann, weil man es nicht erlebt hat? Erlebt haben es andre, sehr viele, die meisten von ihnen sind tot. An ihren, der Toten ungesicherten Leitfäden müssen wir uns entlangtasten und aufpassen, dass sie uns nicht aus den Händen rutschen oder wie Spinnweben zerreißen.“
Eine Besucherin in Ebensee schultert die bleistiftgraue Tasche eines amerikanischen Modemachers mit der Aufschrift „The Tote Bag“. Auf dem kontaminierten Gelände von Ebensee werden selbst schlichte Tragetaschen zum Fanal.
Das Leben der Dinge geht schließlich auch in Lauffen weiter. Das Salzkammergut war in den Jahren des Zweiten Weltkrieges gleichermaßen Umschlagplatz und Rettungsort für geraubte Kunst. Für arisierte, abgepresste, zwangsverkaufte, klammheimlich verschobene Werke. Gemeinsam mit dem Linzer Lentos-Museum und dem Kammerhofmuseum in Bad Aussee erinnert das schmuck renovierte Marktrichterhaus in Lauffen an diese Reisen der Bilder und Gegenstände, wobei die Lauffener Schau „Das Leben der Dinge“ den Blick zusätzlich hin zur kolonialen Raubkunst weitet. Zu sehen sind bronzene Unterarme, gerollte Teppiche, in Harz gegossene, mit Marmorstaub vermengte Skulpturen, Fotografien in kantigem Schwarzweiß, verwaiste, teils in Scherben zerschlagene Vitrinen, arrogant dreinblickende Wichtigtuerfiguren mit französischer Bulldoge an roter Hundeleine. Es gibt in Lauffen viel zu lesen und zu sehen über das, was den Dingen angetan wurde und wird, wenn das Leben der Menschen nichts mehr zählt. Es sind die roten Fäden, die uns an die Vergangenheit fesseln.
Wolfgang Paterno
ist seit 2005 profil-Redakteur.