Kultursender Ö1 wird 50: Eine Liebeserklärung
Es war die Zeit, da das Hören von Ö1 noch eine gewisse Mühsal bereitete. In der Ära des Analogen, die von heute aus gesehen wie das Archaikum der Kommunikation wirkt, stellten sich drängende Fragen: Fällt vielleicht der Strom aus? Funktioniert die Autoreverse-Mechanik des Kassettendecks? In welchem Elektromarkt sind genügend Kassetten mit einer Aufnahmekapazität von 120 Minuten lagernd? TDK, Sony oder Maxell? Ein durchschnittliches Wochenende gestaltete sich für den Ö1-Sympathisanten, der keine wichtige Sendung verpassen und archivieren wollte, in prädigitaler Epoche ungefähr so: den Timer der Stereoanlage Freitagabend für das Samstagsfeature "Hörbilder" auf 9:05 Uhr programmieren; bis zum Abspann der "Hörbilder" um kurz vor zehn Uhr ausharren, Kassettenwechsel (120 Minuten Aufnahmezeit!) und Neuprogrammierung: 17:05 Uhr, "Diagonal", das zweistündige Radio-Magazin. Gesegnet jene, die damals bereits über Stereoanlagen mit Kassettendoppeldeck und Multi-Timer- Funktion verfügten.
Entspannt hat sich die Situation Anfang der 1990er-Jahre, als die Kompaktkassette von der MiniDisc abgelöst wurde, dem nicht ganz geglückten Versuch eines japanischen Elektrogiganten, den Tonträger mit den glänzend braunen Tonbandschlingen zu beerben. Kein Umspulen mehr, kein Bandsalat, kein Leiern. Wie kinderleicht die digital aufgezeichneten Sendungen anschließend editiert, wie bequem der störende Stunden-Gong und das "Es ist zehn Uhr" des Nachrichtensprechers weggeschnitten werden konnten. Stromausfälle kamen übrigens selten vor.
Ö1 ist noch immer einer der besten Radiosender der Welt, und im Qualitätssektor ist er einer der quotenstärksten Europas. Es ist einfach, das Kulturmedium auch im 50. Jahr seines Bestehens zu schätzen. Die Rundfunkanstalt, die seit 1990 rund um die Uhr sendet, macht es seinem Publikum inzwischen leicht: Seit einigen Jahren lassen sich ausgewählte Sendungen gegen geringes Entgelt bequem von der Ö1-Website herunterladen, das gesamte Programm wird live gestreamt, ist sieben Tage on demand zu hören.
Konzept des Mischsenders
Ö1 wurde 1967 vom damaligen Generalintendanten Gerd Bacher bereits als Mischsender konzipiert. Wortbeiträge neben Musikschienen. Features neben Nachrichtensendungen. Oper und Pop. Religion und Wissenschaft. Radiodoktor und Kunstradio. Auf Ö1 vermengen sich Wissensdurst und Schulfunk, Philosophie und Pragmatismus, Moderatorenwitz und Schwurbel-Rhetorik, Lustmacherei und durchgeistigte Unterhaltung. Manche Präsentatoren sind aus gutem Grund überheblich, andere eher grundlos. Meister der Zote wechseln hinter den Mikrofonen mit Auskennern ihres Fachs. Die meterhohe Plastik eines menschlichen Ohrs, vom Gugginger Künstler Johann Garber in grellbunter, mosaikartiger Farben- und Formenpracht gestaltet und 1998 als Ö1-Wahrzeichen vor das Funkhaus in der Wiener Argentinierstraße gestellt, symbolisiert das Geschehen innerhalb der Mauern der 1939 fertiggestellten Hörfunk-Hauptresidenz, in der die Sender Ö1, Radio Wien und FM4 sowie das Radiokulturhaus und das Radiosymphonieorchester (noch) untergebracht sind, ziemlich genau.
Viele Ö1-Formate liefern in der Regel großartige Qualität: "Morgenjournal","Gedanken für den Tag" "Spielräume", "Journal-Panorama", "Kontext", "Leporello", "Hörbilder", "Ton spuren", "Du holde Kunst", "Im Gespräch", "Diagonal", "Menschenbilder","Vom Leben der Natur". Ganze Tage lassen sich mit Ö1 verbringen. Man hat Hoffnung für den Qualitätsjournalismus, wenn man dem Sender sein Ohr schenkt. Es hängt ursächlich mit dieser besonderen Güteklasse zusammen, dass man sich beim Zuhören augenblicklich für das Schicksal eines indischen Jungbauern, die Opalhauptstadt im Herzen Australiens, den Nazi-Sohn einer niederbayerischen Familie, die schleichende Alzheimer-Erkrankung von Frau Bauer, Ameisenbären, Hans Wollers Samtstimme, die aus Paris berichtet, oder, wie vergangene Woche, für die Lesung des Alten Testaments auf Wienerisch begeistern kann.
Ö1 liefert Tag für Tag ziemlich viel Welt ins Wohnzimmer. Wäre der Sender ein Mensch, er käme nicht als gramgebeugter, bürgerlich-konservativer 50-Jähriger mit grauem Haarkranz daher. Er wäre ein grüblerischer Jungspund, der meint, vieles besser zu wissen. Jene Sendereihen, die bereits zur Zeit ihrer Entstehung Dampfradio-Charakter hatten, wurden in den vergangenen Jahren nach und nach gekippt: "Die ökumenische Morgenfeier","Die technische Rundschau", das Morgenturnen mit Ilse Buck; im November 2005 wurde die 1000. Folge des "Guglhupf" ausgestrahlt, bevor die Kabarettsendung 2009 aus dem Programm fiel.
Charme und Chuzpe
Ö1 ist einige Lust an Renitenz und Differenz eigen. Es ist im weitläufigen ORF-Reich mit seinen obersten Geboten von Ausgewogenheit und Objektivität keineswegs an der Tagesordnung, Politiker und Künstler, Bücher und Theaterpremieren offen zu kritisieren. Ö1 traut sich da mit Charme und Chuzpe erfrischend weit vor, ganz zu schweigen von der Sprechkultur, die hier herrscht. Jeder Lebensmittelgrossist beschallt seine Filialen inzwischen mit eigenen Firmenradios, die den Preis für die Aktionswurst wie ein Erotikum verkünden. Ö1 bedeutet da schiere Rekonvaleszenz der Gehörgänge.
Um Wesen und Charakter von Ö1 noch genauer zu durchleuchten, hilft es, bei Hermes Phettberg, Friederike Mayröcker und Willi Resetarits nachzufragen. Der ehemalige TV-Entertainer Phettberg, 64, verbringt, seit er krankheitsbedingt seine Wohnung kaum mehr verlässt, jeden Tag sehr viele Stunden vor dem Radioapparat; seine stets glühende Begeisterung für den Sender teilt er unaufhörlich mit den Abonnenten seines Online-Tagebuchs: "Also muss ich (wie viele Jahre der Isolationsfolter?) weiterhin nur Ö1 hören." Nach der Präsentation eines neuen Mayröcker-Buches im "Morgenjournal" schrieb Phettberg von der "gigantischen Friederike Mayröcker". Die Schriftstellerin, 92, ist seit Ö1-Gründung Stammhörerin und hat in den vergangenen Jahrzehnten zahllose Hörspiele und Wortbeiträge für die Station verfasst; Conférencier und Musiker Willi Resetarits, 68, äußerte einst den fast schon legendären Satz, dass er das Radio weiterspielen lasse, wenn er aus dem Haus gehe. "Damit die Wohnung auch was hat."
Friederike Mayröcker redet über Ö1 wie über einen alten Bekannten. Sie ist für einige Tage im Spital, nichts Schlimmes. Sie verbringt ihre Zeit wie gewohnt mit Radiohören. Fernsehen schaut sie so gut wie nie. "Wenn möglich, verpasse ich keinen Mittwoch- und Donnerstagabend auf Ö1, Sendungen wie ,Zeit-Ton' und das ,Salzburger Nachtstudio'", sagt die Schriftstellerin. "Ich bin und bleibe ein Augenmensch. Zuhören kann aber so schön sein. Seit 50 Jahren lausche ich den Wortwelten und den Ton-Texturen aus dem Radiolautsprecher. Ich liebe Klaviermusik und Kammerkonzerte." Radio als hörbare Poesie.
"Nicht mehr das, was es einmal war"
Seit 1. Mai gilt das neue Ö1-Programmschema. Hermes Phettberg, der Ö1-Dauerhörer im dritten Stock eines liftlosen Wiener Altbaus, spricht aus enttäuschter Liebe. "Ö1 ist nicht mehr das, was es einmal war. Selbst die ,Wiener Zeitung' hat ihr Radioprogrammheft eingestellt. Ö1 will ein durchmoderiertes Musikprogramm werden. Mir fehlen aber die Hörspiele, und dass der Radiohund Rudi, mein allergrößter Liebling, nur mehr vier Mal pro Woche auftritt, ist schwer verkraftbar. Ich vermisse auch das unlängst aufgelassene ,Café Sonntag', das dem ,Guglhupf' nachgefolgt ist. Dass nun beide nicht mehr sind, sagt viel aus. Im Bett liegend, warte ich auch auf meine geliebten Reisefeuilletons, sie kommen aber seltener. Ich wohne im Bett und kann mich via Radio nicht mehr ungehemmt herumtreiben. Allerhöchstens Sonntagvormittag eine Sinfonie, das halte ich durch. Freilich: Unter allen Radiosendern bleibt Ö1 selbstverständlich die Majestät. Und ich der Luchs, der neben all der Musik auf Worte lauert."
Wenn man es noch genauer wissen will, kann man bei Willi Resetarits anrufen. Er legt Wert auf die Feststellung, dass er sein Radio aufdrehe, keinen On-Knopf drücke. "Radiohören fing für uns Kinder immer mit der Drehbewegung an einem Knopf an. Die Magie von Ö1 ist noch immer jene des Radios aus dieser Zeit. Jemand spricht mit mir, aber nicht auf die aufgekratzte Art, die allein das Musikgedudel überbrückt. Es kommt von draußen etwas herein." Seine Tage teilt Resetarits nach dem Ö1-Progamm ein. "Zum Frühstück höre ich ,Radiokolleg'. Dabei werde ich auf angenehmste Weise belehrt. Bei Ö1 ist man immer persönlich gemeint. Man wird nicht unterschätzt, sondern von den Radiomachern in der Argentinierstraße für voll genommen." Der Schriftsteller Michael Köhlmeier notierte einst: "Ö1 gehört -mir. Die Stimmen von Otto Brusatti, Mirjam Jessa, Albert Hosp, Doris Glaser, Bernhard Trebuch, Wolfgang Ritschl und den vielen anderen sind meine Stimmen, wie die Bücher in meiner Bibliothek meine Bücher sind, obwohl ich sie nicht alle geschrieben habe. Wenn ich wüsste, dass am Vormittag das ,Radiokolleg' ausfällt, würde ich gleich gar nicht frühstücken. Den Samstagvormittag - ,Feature'-Termin - erbringe ich in der Küche wie andere Leute den Abend in der Oper." Manchmal, sagt Willi Resetarits, vergesse er noch immer, das Radio abzudrehen, wenn er sein Haus verlasse. "Einen bestimmten Sound, von dem ich vermute, dass die Wohnung diesen hören will, drehe ich dann aber doch nicht an."
Von den Bananenkisten voller TDK-, Sony- und Maxell-Tonbandkassetten musste sich der Ö1-Sympathisant übrigens aufgrund akuter Wohnraumnot später trennen. Die MiniDisc-Sammlung, Hunderte vielfarbiger Kunststoffgehäuse, besteht bis heute. Es ist ein ungemein beruhigendes Gefühl, fast 45 Gigabyte downgeloadetes Ö1-Radio auf der Festplatte zu wissen.