Kurt Palm: Unterwegs mit einem Berufswiderspenstigen
Kurt Palm will wissen, was mit den Körpern verunglückter Taucher in 100 Metern Tiefe passiert. "Fischfutter?", fragt er. Palm, wache blaue Augen, ein schlohweißes Gezausel von Frisur, sitzt an einem Besprechungstisch der zoologischen Abteilung des Wiener Naturhistorischen Museums, Zimmer 238. Ihm gegenüber hat Ernst Mikschi Platz genommen, der Leiter der Fischsammlung. Es ist eine Szene wie aus einem Kurt-Palm-Film, wobei die Zutaten für die Einstellung selbst für Palms Verhältnisse unerhört sind. Palm schreibt an einem neuen Roman mit Arbeitstitel "Das Monster vom Attersee". In dem Buch spielen lesbische Vampire aus Tschetschenien, angeschwemmte Hundehinterbeine und ertrunkene Taucher tragende Rollen. Palm ist beim Schreiben in der Hälfte des Manuskripts angelangt. Offene Fragen will er nun in Zimmer 238 klären. Sind Österreichs Süßwasserfische für Leib und Leben des Menschen gefährlich? Lassen sich Hechte mit anderen Fischarten kreuzen? Wurde im Attersee je ein Alligatorhecht gesichtet? Knabbern Welse die Leichen von Menschen an? Auf der Tischplatte aus Zeiten der Monarchie liegen ein präparierter Hechtkopf und ein Junghai. Mikschi, der sehr viel über Fische weiß, arbeitet Palms Fragenkatalog geduldig ab. "Hecht und Wels sind keine Abbeißer, eher Schlinger", sagt der Sammlungsleiter.
Palm, 61, ist Attackierer und Infragesteller, Unruhestifter und Berufswiderspenstiger. Mit seiner verspäteten Beatnik- Wildheit und seinem wilden, erratischen Denken fällt es ihm nicht besonders schwer, ein Unikat zu sein. Er spricht fast immer so laut, als müsse er an einem Wirtshaustisch die anderen Saufbrüder übertönen. Um eine Ahnung davon zu bekommen, wer Palm, ist und was ihn antreibt, muss man ihm einen sonnigen Februarnachmittag lang folgen.
Stille Verachtung
Eine Idee von Frühling liegt in der Luft. Palm hat seine Tasche mit Jimi-Hendrix-Porträt geschultert und die schwarze Wollhaube tief ins Gesicht gezogen. Er macht sich auf den Weg zu einem Musikgeschäft im 7. Wiener Gemeindebezirk. Sein Grundgefühl für Wien ist stille Verachtung, Verklärung ist ihm ein Gräuel. Sein Groll auf die Stadt speist sich aus einem dunklen Fundus. Palms zwölftes Buch ist soeben erschienen. "Strandbadrevolution" erzählt ein Stück österreichischer Geschichte als skurrile Provinzposse der 1970er-Jahre.
Krachen muss die Geschichte
Der 17-jährige Ernst, wegen seines Rolling-Stones-Fimmels Mick gerufen, genießt und erleidet einen Sommer lang juvenile Erotik und Revoluzzertum. Es dauert einige Zeit, bis der Roman nach längerem Dahinmäandern endlich Fahrt aufnimmt, man merkt dem Buch an, dass Palm ein schneller Schreiber ist, kein Mann langer Bedenken. Krachen muss die Geschichte von Mick und seinen Kumpels. In einem seltenen ruhigen Moment der Selbsterkenntnis gleitet Micks Blick aus dem Fenster: "Ein paar [Kühe] lagen dösend im Gras, ein paar fraßen gelangweilt, und der Rest stand blöd herum und stierte ins Leere. Offenbar ging es ihnen nicht viel besser als mir, allerdings hatten sie den Vorteil, dass sie sich ihrer beschissenen Lage nicht bewusst waren." Kurze Rast im Café "Siebenstern", der kleinen KPÖ-Kulturinsel im 7. Bezirk. Das "Siebenstern" war lange Zeit eine Art Stützpunkt für Palm; in alten Unterlagen des Verfassungsschutzes, der seinerzeit die kommunistische Gefahr witterte, tauchen die Namen von Palm und des Lokals oft auf. Palm säbelt mit der Gabel große Stücke von seinem Himbeer-Schoko-Cheesecake. Der Palm, der hier aus seinem Leben erzählt, ist ein anderer als jener aus der Fischsammlung mit seiner Hokuspokus-Performance. "Die Erinnerung ist ein Hund", sagt er. Palm war in seiner frühen Jugend Mittelstürmer beim TSV Timelkam. Er ist Karl-May-Fan und schätzt Bertolt Brecht und Richard Yates. Seine Begeisterung für das Angeln grenzt an Manie. "Ich bin Laufangler entlang der Ufer, kein Sitzangler."
Vom Fang eines 45-Kilo-Thunfischs in Südafrika erzählt er wie von einer epischen Begebenheit. Palm lebte und arbeitete in der ehemaligen DDR und assistierte Claus Peymann am Wiener Burgtheater. 1989 gründete er die Theatergruppe "Sparverein Die Unzertrennlichen", die er zum Zehn-Jahres-Jubiläum auflöste. Er hat in New York, Dublin und Klagenfurt an Theatern inszeniert und Filme über Mozart und Adalbert Stifter gedreht. Mit den mehr als 60.000 verkauften Exemplaren seines Landkrimis "Bad Fucking" landete er 2011 einen Bestseller. "Die Seilschaften, Klüngel und Verhaberung in Wien sind unerträglich", sagt Palm. "Ich feiere gerade Jubiläum: Seit genau 20 Jahren habe ich nicht mehr in dieser Stadt inszeniert." Er habe sich auf das Schreiben zurückgezogen. "Sonst wäre ich nervlich längst ruiniert und im Narrenhaus gelandet." "Strandbadrevolution" spart nicht mit versteckten autobiografischen Hinweisen.
"Ohne Palm kein Phettberg"
Micks Mutter stirbt bei Hochwasser. Einer von Micks Freunden begeht Selbstmord, und das Schicksal von Micks ungeborenem Kind bleibt ungewiss. Palms eigener Großvater ertrank im Kartoffelkeller, Palms Bruder Reinhard erhängte sich 2014 in einem Wald am Rand von Wien, und vor einigen Jahren kam Palms Kind tot auf die Welt. Das Querständige ist bei Palm keine Koketterie, eher Überlebensstrategie. Wen man auch fragt: Mit Palm sind so gut wie alle über Kreuz. "Ich streite sofort mit jedem", sagt er auf dem Weg zum Plattenladen um die Ecke seiner Wohnung. Palm verachtet die Sozialdemokratie; über Künstlerkollegen kann er lange Monologe halten, die man in der Zeitung nicht drucken darf. Gern lässt er seinen Anwalt Briefe verschicken, gerade eben an einen Salzburger Autor, der nach Palms Auffassung eine rote Linie überschritten habe. Der TV-Entertainer Hermes Phettberg, mit dem Palm in den 1990er-Jahren gemeinsam die legendäre "Nette Leit Show" produzierte, ist einer der wenigen, die Palm bis heute freundlich gesonnen sind. "Kurt hat mich hochgehoben", erinnert er sich. "Ohne Palm kein Phettberg."
Noch ein Abstecher in ein Juwelier-Geschäft. Goldschmiedemeister Avi hat Palms 30 Jahre alten Wecker repariert, ein billiges Plastikding, das jeder andere längst durch ein neues Modell ersetzt hätte. Palm ist in seinem Element. Mit der digitalen Welt kann er nicht viel anfangen, sein Mobiltelefon war vor zehn Jahren modern. Avi erklärt Palm, er repariere auch Flugzeuge und Hubschrauber. Als Bezahlung reicht ihm Palm beim Hinausgehen eine Rotweinflasche.
"Let it bleed"
Das erlesene Vinyl-Warenhaus "Schallter" in der Westbahnstraße, das Ziel von Palms urbaner Wanderung. In "Strandbadrevolution" versucht Mick, die Songs des Rolling-Stones-Albums "Let it bleed" zu transkribieren. „,This record should be played loud', stand auf der inneren Hülle, und meist hielt ich mich auch an diese Empfehlung der Plattenfirma." Palm ist auf der Suche nach "Let it bleed", 1969 in den USA veröffentlicht. Bald hält er das Originalalbum triumphierend in Händen. Seinem fernen Alter Ego Mick bereitet die phonetische Notation von "You Can't Always Get What You Want" noch einige Probleme. "In meiner Version des Liedes ging Mick Jagger in eine Apotheke, um ein Rezept abzuholen. Dabei stand er in einer Reihe mit einem gewissen Mister Jimmy, der irgendwie krank aussah. Jagger stahl die Seele von Mister Jimmy, der nur noch ein Wort sagte:'Schmutz.' Oder war es 'tot'? Dirt oder dead?" Vor zwei Jahren hat Kurt Palm sein Testament gemacht. Er hat bestimmt, dass es nach seinem Tod keinen Grabstein und keinen Gedenkort geben dürfe. Seine Asche hätte er gern im Attersee verstreut.
Kurt Palm: Strandbadrevolution. Deuticke, 255 S., EUR 20,60
Dieser Artikel stammt aus dem profil Nr. 8 vom 20.2.2017. Das aktuelle profil können Sie im Handel oder als E-Paper erwerben.