Lady Gagas neues Album "Chromatica": Ein bisschen Blödsinn
Ein Stern ist geboren. Es wurde Zeit. In der Vorwoche erschien, mit coronabedingter zweimonatiger Verspätung, das von vielen Millionen Menschen tatsächlich sehnsüchtig erwartete neue, sechste Album von Lady Gaga. Es heißt "Chromatica", wurde vorsichtshalber als Rückkehr zu alter Form angekündigt und offenbar von sehr vielen Fans auch so wahrgenommen. Die Charts sind im Moment jedenfalls weltweit stark gagalastig. "Ich will, dass die Leute tanzen und glücklich sind",erklärte die Künstlerin; in der profil-Redaktion herrscht freilich eine gewisse Unklarheit, ob dieses Ziel wirklich erfüllt wurde und ob es sich, zweitens, überhaupt um ein satisfaktionsfähiges Vorhaben handelt. Um es diplomatisch zu formulieren: We agree to disagree.
Ein bisschen Blödsinn
Mit ihrem sechsten Album definiert Lady Gaga das Wesen des zeitgenössischen Superstars. Sebastian Hofer findet das hervorragend durchschnittlich.
Eine Annäherung an das Werk von Stefani Germanotta alias Lady Gaga beginnt zwangsläufig tautologisch: Nicht schlecht ist überhaupt nicht schlecht. Wenn man das einmal weiß, ist man zwar noch nicht sehr viel klüger, aber immerhin dem Wesen des zeitgenössischen Mainstream-Pop auf der Spur. Lady Gaga, die kürzlich ihr sechstes Album veröffentlicht hat, erweist sich im Frühjahr 2020 als dessen ultimative Galionsfigur. Und das wiederum ist, zweite große Mainstream-Popweisheit, nicht nichts.
Man kann an "Chromatica" alles Mögliche kritisieren: Innovationsmangel, politische und künstlerische Belanglosigkeit. Am Ende ist es aber eben: nicht schlecht-und dabei auch noch unverkennbar. Darin steckt der Kern von Lady Gagas Kunst, die nicht unbedingt ästhetisch funktioniert, sondern vielmehr als reines Wirkungsprinzip. Mit Durchschnitt herauszuragen, ist die höchste Meisterschaft, die diese Kunst erreichen kann. Man muss das erst einmal schaffen. In "Chromatica" kulminiert eine Karriere, die sich diesem Punkt von vielen Seiten annäherte, was physikalisch schwierig, im Pop aber eine beliebte Übung ist. Vor zwölf Jahren erreichte Lady Gaga mit ihrem Debüt "The Fame" sehr schnell ebendiesen Punkt und steckte mit den drei Megahits "Just Dance", "Poker Face" und "Paparazzi" ein Themenfeld ab, das bis heute Ertrag bringt. Es folgte ein relativ klassischer Karriereverlauf: Zunächst übersteigerte Germanotta die Künstlichkeit ihrer Bühnen-und Medienfigur ins Bizarre, inszenierte sich als Zwitterwesen zwischen Kunst und Pop, Mensch und Alien, Frau und Mann; nahm später pensionsreife Jazz-Standards und Countrysongs auf, sezierte ihre persönlichen Dämonen, stellte sie zur öffentlichen Begutachtung aus und gewann einen Soundtrack-Oscar.
Lady Gaga ist Kummer also gewohnt. Sie wurde auch in einer Dekade groß, die mit der Katastrophe des 11. September 2001 begann und mit einer großen Depression zu Ende ging, um in einem Jahrzehnt zum Popstar zu werden, das aus der Wirtschaftskrise erst herauskam, als die Klimakatastrophe nicht mehr zu übersehen war. Jetzt kehrt Gaga-pünktlich zur größten
Krise seit dem Zweiten Weltkrieg-zu ihren Anfängen zurück, zum Dancepop und House der späten 1990er-Jahre, dem letzten anerkanntermaßen einwandfrei guten Pop-Jahrzehnt. Im profil-Archiv wurde der Vektor, auf dem Lady Gagas Werk verläuft, relativ früh eingezeichnet. Im Herbst 2009, vor dem ersten Gaga-Konzert in Österreich, war zu lesen, dass die Künstlerin "mit großer Konsequenz zwischen Kinderfasching und Haute Couture oszilliert und dem Popbetrieb damit ein wenig von dem zurückgibt, was er in den letzten Jahren so sehr vermissen ließ: Künstlichkeit, Verwirrung, Aufregung". Ein Jahr später rekonstruierte profil den "wesentlichen Reiz des Gagaismus: Man sucht ein Geheimnis, das sich vielleicht gar nicht finden lässt, weil es möglicherweise gar nicht da ist, sondern nur behauptet wird.()Lady Gaga könnte insofern durchaus interessant sein. Wenn all das nicht ganz so brav durchexerziert wäre. Zur Kunst der Lady Gaga gehört auch die Kunst der Behauptung, ganz besonders zu sein. Objektiv betrachtet, ist sie das keineswegs." Neu ist nun, zehn Jahre später, dass Gaga überhaupt nichts mehr behaupten muss. Mainstream-Pop ist auf dem Niveau von Lady Gaga keine große Anstrengung mehr wert. Man macht, was man will, weil das, was man will, eh alle wollen-eine gute Zeit und ein bisschen Blödsinn: eine eurovisionstaugliche House-Hymne mit Elton John ("Sine From Above"); ein Musikvideo, dessen außerirdisches Setdesign von William Shatner stammen könnte ("Stupid Love"); ein Duett mit Ariana Grande ("Rain on Me"), das beweist, wie ununterscheidbar hochprozessierte Popstarstimmen sind.
Dass Lady Gaga im Zeitalter von Grande, Dua Lipa oder auch Taylor Swift ohne jeden Zweifel eine herausragende Pop-Persönlichkeit darstellt, ist in diesem Sinn nicht nur eine Leistung ihrer durchaus talentierten und auch sehr zahlreichen Produzenten (die, wie "Chromatica" nahelegt, allesamt schon einmal etwas von French House gehört haben dürften, sich aber angenehmerweise nicht nur in Richtung David Guetta, sondern auch an Cassius oder gar Daft Punk orientieren).Es ist in erster Linie eine Funktion ihrer-im besten Sinne unfassbaren-Persönlichkeit. Lady Gaga steht für sich selbst und will gar nicht mehr: Sie ist, was sie ist. Tautologie für alle.
"Man kann an 'Chromatica' alles Mögliche kritisieren. Am Ende ist es aber eben: nicht schlecht."
Lady Gaga Chromatica Interscope/Universal.