Lady Gagas neues Album "Chromatica": Spaß im Stahlbad
Ein Stern ist geboren. Es wurde Zeit. In der Vorwoche erschien, mit coronabedingter zweimonatiger Verspätung, das von vielen Millionen Menschen tatsächlich sehnsüchtig erwartete neue, sechste Album von Lady Gaga. Es heißt "Chromatica", wurde vorsichtshalber als Rückkehr zu alter Form angekündigt und offenbar von sehr vielen Fans auch so wahrgenommen. Die Charts sind im Moment jedenfalls weltweit stark gagalastig. "Ich will, dass die Leute tanzen und glücklich sind",erklärte die Künstlerin; in der profil-Redaktion herrscht freilich eine gewisse Unklarheit, ob dieses Ziel wirklich erfüllt wurde und ob es sich, zweitens, überhaupt um ein satisfaktionsfähiges Vorhaben handelt. Um es diplomatisch zu formulieren: We agree to disagree.
Spaß im Stahlbad
Die Lady, die sich Gaga nennt, hat Gaga nicht auf Lager: Stefan Grissemann kann "Chromatica" wenig abgewinnen.
Eines muss man ihr lassen: "Chromatica" ist ein hübscher Albumtitel. Der knallbunte Mode-und Klangdunstkreis, in dem Lady Gaga floriert, hat sich von der trostlosen Erde neuerdings auf einen bislang ungekannten Planeten verzogen. Auf Chromatica ist rund um die Uhr Tanzlaune angesagt; man bietet dort mit viel AutoTune tief empfundene Ausdruckslyrik dar, trägt knallige Latexkostüme und lässt sich vom permanent wummernden Beat zu allerlei crazy Party- Moves verführen. Man kann die Musik auf "Chromatica" nicht einfach nur hören, man muss sie auch sehen. Die bereits vorab veröffentlichten Videoclips verdeutlichen die Kernkompetenzen des Unternehmens Lady Gaga: "Stupid Love" (90 Millionen Aufrufe in drei Monaten) entführt in eine käsige Digital-Fantasywelt, in der eine rosafarbene Space-Gaga in stilisierten Wüstenplanetenlandschaften eine Reihe von Uralt-Gruppenchoreografien vollzieht, während tuckernde Electro-Sequencer ein paar Routineharmonien durchdeklinieren. In "Rain on Me", einem Superstar-Duett mit Ariana Grande (bislang 83 Millionen Clicks), taucht die Lady erneut in Bonbonrosa auf, und alle verfügbaren Wassermaschinen regnen in dystopischer Stadionarchitektur auf sie und ihre Truppe herab.
Die drei kurzen instrumentalen Hollywood-Orchester-Zwischenspiele auf "Chromatica" sind Programm. Sie deuten an, worum es der Dancefloor-Queen in Wahrheit geht: nicht um ein paar schnöde Pop-Miniaturen, sondern um großes Kino und große Gefühle, um medienwirksamen Seelenstriptease in Massenkonfektionsgröße. Bei dieser Songschreiberin reimt sich nicht ganz ohne Grund "Gaga" auf "Saga". Ein Album der "Heilung" sei dieses neue Werk für sie, denn sie wisse nur zu gut, was es heißt, Schmerzen zu erdulden, sagt die Künstlerin. Sie sei zwar nicht Alice, singt sie in hörbarer Hochstimmung, aber nach dem Wunderland suche sie unbeirrt weiter. In "911" konstatiert sie mit Kinderroboterstimme noch, dass sie - auf antipsychotischer Medikation - sich selbst ihr größter Feind sei. Es ist schwer, zu glauben, wie unpersönlich das Privateste bei Lady Gaga klingt. In "Fun Tonight" hat sie natürlich genau das nicht, was der Titel verspricht, weil, eh schon wissen: durch dunkle Zeiten gegangen, schlimme Dinge erlebt, kein Talent zum Glücklichsein gehabt. Aber so reift man zur Großraumdisco-Konzeptkünstlerin heran - erst die Wunden, die einem geschlagen wurden, machen einen so richtig überlebensfähig. Bei Lady Gaga ist Fun tatsächlich noch ein Stahlbad, in jeder Hinsicht. Das Leiden teilt sich mit.
Schon 2008, als sie debütierte, positionierte sie sich als Madonnas Social-Media-Wiedergängerin, gab da und dort einprägsame und zeitlose Retro-Popsongs wie "Paparazzi" oder "Poker Face" zum Besten. Seither hat sie die Produktionsspirale angezogen und auf Club-Dutzendware umgeschaltet. "Artpop" hieß noch 2013 eines ihrer Alben. Davon kann 2020 keine Rede mehr sein. Die parallel eingeschlagene Karriere als Schauspielerin verlängerte die Abstände zwischen ihren Alben. Vier Jahre sind seit dem vergleichsweise sensitiven Opus "Joanne" vergangen. Nun kehrt sie solchen Authentizitätsbezeugungen den Rücken und in ihr ursprüngliches Terrain zurück: zum elektronisch ziselierten Anonym-Dancepop. Und gemeinsam mit Elton John besingt sie noch die Sinuswelle, die zur Basis der Musik wurde und ihr "Herz gerettet" habe. So politisch unmissverständlich wie auf ihrem Twitter-Account, wo sie aus Anlass des Mordes an George Floyd erst vor wenigen Tagen US-Präsident Donald Trump attackierte ("Wir wussten, dass er ein Narr und ein Rassist ist, dass er nichts außer Ignoranz und Vorurteile zu bieten hat"), ist Lady Gaga in ihren neuen Songs leider nirgendwo.
Natürlich muss man auch diese Performerin an ihren Zielen messen. Der globale Dancefloor-Konsens ist ihr Pflicht-Spielfeld, der kleinste gemeinsame Nenner für sie gerade groß genug. Aber selbst wenn man akzeptiert, dass sich jede Form der "Innovation" hier notgedrungen in Grenzen halten muss, ist etwas ungeheuer Schales an diesem Album, das Nu-House, Electro und Disco-Versatzstücke zu einer nach nichts schmeckenden, aber auf Cover, Haarfarbe und Outfit exakt farbabgestimmten Suppe verrührt.
Wofür das Gaga im Namen der Künstlerin noch stehen soll, weiß allerdings der Teufel. "Verrückt" ist nämlich kein Begriff, der einem angesichts der unverbindlichen Klangwelten dieses Albums einfallen würde. Der leise Wahnsinn war gestern, geblieben sind nur das alte Stimmen-Overacting und der Charts-Panzer. Man muss es leider so deutlich formulieren: "Chromatica" ist Musik für schlechte Frisiersalons und Nachttaxifahrer mit Hitradio-Foltergarantie.
Lady Gaga Chromatica Interscope/Universal