Interview

Leipziger Buchmesse: „Ohne Literatur wäre dieses Land wohl längst an sich selbst erstickt“

Bei der Leipziger Buchmesse dreht sich dieses Jahr alles um Österreich. Die ORF-Journalistin und Schwerpunkt-Leiterin Katja Gasser über Literatur, Land und luftleere Räume.

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Österreich ist Gastland bei der diesjährigen Leipziger Buchmesse, die diesen Donnerstag eröffnet wird. Was soll Leipzig über Österreich lernen?
Gasser
Dass Österreich ein mehrsprachiges und mehrkulturelles Land ist mit einer dem entsprechend lebendigen und vielgestaltigen Literaturszene! Dass Österreich ein Land ist mit einer ungeheuer produktiven und kreativen unabhängigen Verlagsszene, in der die bis vor Kurzem prädominanten patriarchalen Strukturen am Bröckeln sind. Schließlich: Dass Österreich ein Land ist, das die Freiheit der Kunst hochhält, diese als Quell von Erkenntnis und Aufklärung ernst nimmt – womit zum Ausdruck gebracht wäre, dass Österreich eine entwickelte Demokratie ist. Wirklichkeitssinn und Möglichkeitssinn greifen dabei ineinander. Ich habe mir mit dem Programm, so wie es dasteht, auch einen Traum von Österreich erfüllt.
Literatur-Österreich und das Land Österreich: Was trennt, was verbindet die beiden?
Gasser
Literatur entsteht bekanntlich nicht im luftleeren Raum, sie ist geprägt von dem Kontext, in dem sie entsteht. Die Literatur dieses Landes trägt dieses Land in sich, ob sie das will oder nicht, was sich auf sehr unterschiedliche Arten realisiert. Dass „wir“ noch immer Spezialisten im literarischen Sezieren von Provinz sind, daran lässt auch die jüngere Generation österreichischer Autorinnen und Autoren keinen Zweifel.
An wen denken Sie da?
Gasser
Beispielsweise an Reinhard Kaiser-Mühlecker, Birgit Birnbacher, Markus Köhle, Romina Pleschko, Helena Adler. Zugleich ist die österreichische Gegenwartsliteratur viel weltoffener – im wörtlichen Sinn – als das Land selbst, siehe: Tanja Maljartschuk, Barbi Markovic, Fiston Mwanza Mujila, Ana Kim, Milena Michiko Flašar, Didi Drobna, Michael Stavarič, Tonio Schachinger, Ana Marwan, Anna Herzig, Anna Baar, Verena Gotthardt und viele andere mehr. Diese Namen sind Beispiel dafür, dass in einem Leben viel mehr Platz hat als nur eine einzige Sprache und Kultur. Ohne den emanzipatorischen Furor der hiesigen Literatur – wie der Kunst des Landes generell – wäre dieses Land wohl längst an sich selbst erstickt. Die Kunst im Land bleibt ein wichtiges gesellschaftspolitisches Korrektiv!
Wie soll in, sagen wir, einem Jahr auf das Österreich-Fest in Leipzig idealerweise zurückgeblickt werden?
Gasser
Wer sagen wird, dass das Gastlandprojekt, wie Sie sagen, „das Österreich-Fest“ im April 2023 in Leipzig war, wird die Verantwortung dafür tragen müssen, dass ich in eine tiefe Depression stürze! Das Gastland-Projekt ist viel mehr als unser Programm während der Tage der Leipziger Buchmesse: Werfen Sie einen Blick auf unser Programm auf www.gastland-leipzig23.at!
Was soll bleiben?
Gasser
Das Bild von Vielfalt und Widerspenstigkeit. Die Erinnerung an etwas Freudvolles, Berührendes, an etwas, das uns gemeinsam lachen ließ. Ich würde mir wünschen, dass aus den vielen Initiativen des Gastlandprojekts ein paar Projekte, Beziehungen, Netzwerke würden, die das Momentum der Buchmesse überdauern. Dass etwa die „Archive des Schreibens“ – ein Kooperationsprojekt des Gastlandes mit dem ORF – eine Fortsetzung finden, das hoffe ich doch sehr!
Was durften Sie als künstlerische Leiterin Neues und Überraschendes über Österreichs Literatur und über das Land selbst lernen?
Gasser
Sehr viel. Nicht nur über die Literatur dieses Landes. Eine meiner wichtigsten Lektionen war: Ohne eine innere ethisch-ästhetische Richtschnur ist ein derartiges Projekt verloren, und zwar unter anderem an jene, die in einem solchen Vorhaben vorwiegend die Möglichkeit sehen, Brancheninteressen zu befriedigen. Was die Literatur des Landes angeht, durfte ich lernen, dass ich weniger kenne und weiß, als ich dachte!
Wie beurteilen Sie die heimische literarische Szene?
Gasser
Es herrscht ein immenser Aufbruchs- und Umbruchgeist, der sich beispielsweise darin zeigt, dass viel Genreübergreifendes stattfindet. Ein grandioses Beispiel dafür ist gerade in Form der Ausstellung „Wendy Pferd Tod Mexiko oder Was willst du sehen?“ im Wiener Literaturhaus zu sehen – eine Art Gesamtkunstwerk, das auch als mehrteiliges Buchkunstwerk vorliegt, eine Gemeinschaftsarbeit der Musikerin und Künstlerin Maja Osojnik und der Schriftstellerin Natascha Gangl. Ein weiteres Beispiel: Claudia Bitter, die zwischen bildender Kunst und Literatur changiert, dazu auf dem Feld der Film-Poeme und der audio-visuellen Poesie arbeitet. Dieses Grenzüberschreitende scheint mir in besonderer Weise die literarische Produktion der Gegenwart auszuzeichnen. Deshalb haben wir in Leipzig auch einen kleinen Schwerpunkt zu Film-Poemen eingerichtet, den Thomas Ballhausen kuratiert hat: eines der gewitztesten und feinsten Projekte innerhalb des Großprojekts!

 

 

Wolfgang   Paterno

Wolfgang Paterno

ist seit 2005 profil-Redakteur.