Kling, Katastrophen-Glöckchen, klingeling
Nicht ganz ausgeschlossen, dass neben Festgelagen und Rauschtrinken auch heuer wieder die eine oder andere Stunde zum Lesen bleibt. Im Folgenden deshalb fünf Optionen, wie die Tage bis zum Jahreswechsel, der in der Regel mit mehr Lärm einhergeht, als hochgerüstete Schwermetallbands je verursachen, mit klassischer Lektüre zuzubringen wären. Um es mit Franz Kafkas Bild vom „Hauptquartier des Lärms“ zu sagen, das der Autor in jenem Durchgangszimmer ausmachte, das er in der elterlichen Wohnung in der damaligen Prager Niklasstrasse 36 bewohnte: Wen kümmert das Knallen von Korken und Raketen, solange der Bücherstapel turmhoch und solide gebaut ist.
Weihnachtszeit ist Familienzeit. Ein möglicherweise letztes Fest feiern die Lamberts im Mittleren Westen der USA, im fiktiven Städtchen St. Jude. Patriarch Alfred ist an Demenz und Parkinson erkrankt, seine Ehefrau Enid nörgelt an ihren drei Kindern Gary, Denise und Chip herum, die sich längst in die Weiten Amerikas verabschiedet haben. Im rückständigen St. Jude soll Ende des 20. Jahrhunderts ein letztes Mal Friede unterm Tannenbaum herrschen. Schöner die Glocken des Desasters nie klingen als in Jonathan Franzens Meisterroman „Die Korrekturen“, vor knapp 20 Jahren erstmals auf Deutsch erschienen.
Wem möchte man dagegen jederzeit wiederbegegnen – gleichviel, ob gerade Weihnachten ist oder ein, global betrachtet, weitestgehend unerfreuliches Jahr 2024 sich endlich dazu aufrafft, in den Orkus des historischen Archivs zu verschwinden? Richtig, dem närrischen Adeligen, dem Ritterromane den Kopf vernebelt haben, der auf seinem Klappergaul Rosinante, den treuen Schmerbauch Sancho Panza an der Seite, den berühmten Windmühlen hinterherjagt, die er für Ungeheuer hält. Miguel de Cervantes' Traumtänzergeschichte „Don Quijote von der Mancha“ ist das Urmeter der modernen Literatur.
Wo wir uns schon auf dem Feld der dichterischen Maßlosigkeit und deren schönen Folgen befinden: Bereits der Titel von Roberto Bolaños 2003 postum veröffentlichtem Roman „2666“ ist eine Anmaßung, weil auf den sehr vielen Seiten des Buchs nirgendwo diese Zahl vorkommt, ganz zu schweigen von einem smarten Verweis. „2666“, das ist (in ungefähr dieser Reihenfolge): zum Epos gespannte Erzählung in fünf Teilen, Groschenheft, Universitätsbericht, bombastische Kriminalstory, Ausflug in die Hölle. Glücklich ist, wer sich von diesem Mahlstrom an Ereignissen und Erlebnissen erstmals mitreißen lassen darf.
In das Fach der österreichischen Klassiker ist ein Roman einzuordnen, der 2021 erschienen ist, der aber viel historischen Austro-Ballast umgegraben und beackert hat, und zwar wortwörtlich. „Dunkelblum“, so nennt die Autorin Eva Menasse ihr fiktives Dorf im burgenländischen Grenzgebiet zu Ungarn. Am Ende des Zweiten Weltkriegs fand in Dunkelblum ein Verbrechen statt, das bis heute nachwirkt, so oder so: 200 völlig entkräftete Zwangsarbeiter wurden von den Nationalsozialisten ermordet, ehe die Rote Armee eintraf. Über die Schandtat wurde nach 1945 nicht geredet, es herrschte das Regime des Schweigens. „Dunkelblum“ schlüsselt auf, was Verschweigen im Kleinen und Großen anrichtet, wie eng zuweilen Literatur und Leben verschränkt sind: Beim sogenannten „Massaker von Rechnitz“ wurden von 24. auf 25. März 1945 rund 180 ungarische Juden erschossen; bis heute wurden die Gräber der Opfer nicht gefunden, obwohl mehrmals Suchgrabungen durchgeführt wurden.
Und was ist mit Erotik und Sex, bekanntermaßen menschliche Evergreens, die kein Weihnachten benötigen? Was passiert, wenn es um Geld, Liebe und Erotik geht, wusste der Menschenkenner Honoré de Balzac ganz genau. Lucien Chardon ist ein schöner junger Mann mit ungebremstem sozialem Aufstiegswillen. In „Verlorene Illusionen“ durchmisst Balzac auf knapp 1000 Seiten unnachahmlich und mittels überbordendem Ideenreichtum die (durchaus verwandten) Terrains von Gefühl, Liebe, Sex und Geldumlauf.
Auf die neu gewonnenen Illusionen 2025!