Literatur-Debüt: Philipp Weiss' Roman-Epos
Philipp Weiss hat im Internet unlängst eine Art Resümee für seine Schreibtischarbeit der vergangenen sechs Jahre aufgestöbert. Den Schuber mit den fünf Bänden von "Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen" hat er im Rucksack ins Kaffeehaus mitgebracht. Er wird in der kommenden Stunde immer wieder einen der Bände aus der hellblauen Box herausschütteln, die einzelnen Teile wie Buch gewordene Ausrufezeichen auf den Tisch legen. Auf seinem Handydisplay leuchtet ein Zitat des Philosophen August Wilhelm Schlegel: "Absoluter Roman = psychologischer Roman + philosophischer Roman + fantastischer Roman + sentimentaler Roman + absolute Mimik + absolut Sentimental-Fantastisches + absolutes poetisches Drama + rhetorisches Drama + Prophetie."
Als "Mammutprojekt" wurde der Roman "Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen" in Rezensionen beschrieben. "1000 Seiten schrecken auf den ersten Blick vielleicht ab, mindestens 100 davon nehmen aber allein Bilder ein", sagt Weiss wie zur Entschuldigung. "Und einen ganzen Band hat die Illustratorin Raffaela Schöbitz als Manga gestaltet." Kurze Pause. "Natürlich kann man mit dem Schuber auch jemanden erschlagen." Der schwarze Button auf der Bücherbox wirkt beim schnellen Hinsehen wie eine Bombe ohne Lunte.
Mit seinem ersten Roman springt Weiss, 36, gewissermaßen vom Halbfliegengewicht in die Königsklasse. Neben Theaterstücken erschien 2013 Weiss' Erzählbändchen "Tartaglia"; als Autor machte er mit bescheidenem Aktionismus auf sich aufmerksam, als er beim Klagenfurter Bachmannwettlesen 2009 nach der Jurydiskussion das Manuskript seines Texts "Blätterliebe" coram publico verspeiste.
Waghalsiges Unterfangen
"Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen" ist ein berückend waghalsiges Unterfangen. Endlich lässt einer die Koordinaten durcheinanderrutschen für das, was man als Debütant gemeinhin darf. Oder nicht darf. Nämlich Regeln brechen und Grenzen ausloten: literarische, formale, quantitative, ästhetische. In Sachen Bibliophilie setzt der Roman augenscheinlich Maßstäbe: Fotos, Stiche, Pläne, Skizzen und Zeichnungen wechseln sich mit unterschiedlichen Typografien und Schriftbildern ab, große Kreise huschen ebenso über die Seiten wie Kinderkritzeleien, Textschwärzungen, Stammbäume, Faksimiles. Bild und Text fügen sich in ein spielerisches Ganzes.
Der Roman besteht aus fünf Teilbänden, die von fünf Erzähl-Ichs verfasst scheinen - hinter denen sich Weiss dem Titel gemäß jeweils verschmitzt versteckt. Wie auf einer ausgeleuchteten Bühne gönnt der Schriftsteller seinem Erzählpersonal große Auftritte -mit mal ausdrücklichen, dann wieder versteckten Verweisen auf die anderen Teile. Der Roman ist wie ein episches, mit dem Urknall anhebendes Theaterstück, von dem man nicht weiß, wo genau es anfängt und aufhört, worum es eigentlich geht - was Reiz und Charme des XXL-Debüts ausmacht. Klingt vielleicht in seiner Anlage kompliziert, ist aber süffige Lektüre.
Die Gattung Roman wird fröhlich auf den Kopf gestellt, in Form eines nicht-linearen, vielstimmigen, disharmonischen, transkontinentalen, verschachtelten Experiments, von einem Autor durchgeführt, der als Souffleur seiner Figuren mit Wissbegierde und forschem Ernst bei der Sache ist und der das 20. Jahrhundert tollkühn links liegen lässt und die Erklärungen für die Extreme von Kommunismus und Faschismus im 19. Jahrhundert sucht.
Die Apokalypse als Fest
Die Klimaforscherin und Physikerin Chantal Blanchard irrlichtert durch Paris, Wien, Russland und Tokio, in einen unaufhörlichen inneren Dialog mit einem Schädelknochen verstrickt, von Durchfall und Migräne geplagt. Nicht nur ein Mal steht die Forscherin verloren herum, als sprächen alle Menschen um sie herum eine andere Sprache. In ihrem Pamphlet "Zerstört euch!", in dem sie eine "kleine Abrechnung mit dem Universum" plant, malt sie ein dunkles Bild von der Zukunft: "Wir rücken dem Vakuum immer näher. Es sitzt uns längst unter der Haut." Über sich selbst notiert Chantal: "Es ist also ein Monster, das hier spricht und sagt: Es wäre besser anders gekommen." Das Kichern dringt hier aus der Hölle. Die Apokalypse als ein Fest, das so wirkt, als hätte außer Chantal niemand das nahende Ende der Welt wahrgenommen.
Während der Roman ständig Verbindungslinien von der zuweilen urzeitlich entfernten Vergangenheit zur Gegenwart des 21. Jahrhunderts wirft, begibt sich Chantal entlang der Abgründe des Wahnsinns nicht nur auf die Suche nach sich selbst, sondern auch nach ihrer Ururgroßmutter: Paulette, als Kommunardin im Paris der 1870er-Jahre und frühe Japan-Reisende nicht minder schillernd, legt ihren Lebensbericht als Enzyklopädie ab. Der Fotokünstler Jona, von Chantal jäh verlassen, reist ebenfalls nach Japan; das Kind Akio protokolliert den Wahnsinn der Atomkatastrophe von Fukushima im März 2011; das Mädchen Abra streift im Manga durch die Metropole Tokio. Lose zusammengehalten wird der Roman vom Fukushima-Fallout sowie einer Geisterfigur: Satoshi reinigt Atomkraftwerke, einer aus dem Heer der billigen Arbeitssklaven, der sich am Ende, verstrahlt und vergessen, förmlich auflöst: "Und er lacht. Es ist ein Lachen ohne Haut. Mit Schläuchen in Mund und Nase."
Buch-im-Buch-im-Buch
Auf einer Seite des Romans erhebt sich der "Baum des menschlichen Wissens", ein Kupferstich aus dem Jahr 1780: Weiss hat davon vieles, angereichert bis ins Hier und Jetzt, in sein Buch-im-Buch-im-Buch gepackt. Er macht das so unbeirrt, dass man sich zwischendurch fragt, ob etwas weniger vielleicht doch etwas mehr gewesen wäre. Ödipus, Newton, Pascal, Albert Einstein, Marquis de Sade, Roland Barthes, Heraklit, Montaigne, Nietzsche, Paul Valéry, Hölderlin, der Maler Caravaggio, die Schauspielerin Tilda Swinton, der portugiesische Poet Fernando Pessoa und viele andere werden erwähnt. Ein mögliches Personenregister hätte sehr viele Seiten.
"Die Arbeit am Roman glich dem Malen eines impressionistischen Gemäldes, das sich gleichsam aus kleinen geistigen Farbpunkten zusammensetzt, aus unzähligen Auseinandersetzungen, Sphären und Themenfeldern", entgegnet Weiss und blättert im Band "Enzyklopädien des Ichs", in dem die Geschichte von Chantals Ururgroßmutter lexikalisch aufgefächert wird - vom Stichwort "Höllengalopp" über "Wollust" bis "Korsett": "Wände, Wände, Wände! Ich glaube zu ersticken." Weiss sagt: "In seiner Gesamtheit übersteigen die fünf Bände bei Weitem meinen Horizont. Als Autor klinkt man sich beim Schreiben ins Weltgehirn ein, als mikroskopischer Teil eines großen Ganzen."
Für das Wiener Theater Nestroyhof Hamakom schreibt Philipp Weiss gerade an einem Auftragsstück. "Der letzte Mensch" handelt von Erdenbewohnern mit Geburtsjahr 2019. Wird unser Planet, so lauten die Fragen des Stücks, in 100 Jahren noch existieren? Werden wir dann noch immer Wanderer am Weltenrand sein? Wird es zum Lachen sein?