Literaturkritik: Lektionen über Hitler und Hiroshima
Klein ist der Mensch, groß ist die Welt. Roland Baines, der sich für einen brillanten Bohemien hält, gelangt zur Erkenntnis, dass er ein unbedeutender Organismus auf einem gigantischen Felsbrocken sei. Leichtlebigkeit ade, willkommen Schwerkraft. Baines und der Planet, beide rasen im Parallelschwung durch die "Leere zwischen den fernen, gleichgültigen Sternen".
Ian McEwan wäre nicht der großartige Autor, der er ist, wenn er Baines in seinem neuen Roman "Lektionen" in Sachen Welttaumel nicht die eine oder andere Nuss zu knacken mit auf den Weg gegeben hätte. "Ob Paradies oder Hölle, niemand erinnert sich nach einer Weile noch ganz genau", schreibt McEwan als Sprachrohr seines Hauptdarstellers, der sich in einem zweitklassigen Londoner Hotel als Barpianist verdingt: "Ordnung war ein Fels, den es bergauf zu rollen galt. Die Küche räumt sich nicht von selbst auf."
"Lektionen" wäre der Lesefreude genug. Dass mit Cormac McCarthy ein weiterer Großer der englischsprachigen Gegenwartsliteratur fast zeitgleich den Doppelroman "Der Passagier" und "Stella Maris" veröffentlicht, macht diesen Winter zum kleinen Lesefest.
McEwan, 74, und McCarthy, 89, überraschen mit im besten Sinne ausufernden Alterswerken, allerdings in grundverschiedener Ausprägung. Während McEwan in "Lektionen" den Bogen über Jahrzehnte und Kontinente spannt, bleibt McCarthy in "Der Passagier" und "Stella Maris", mehr als 15 Jahre nach seinem Bestseller "Die Straße", seinen Ort-und Landschaften in Wüste und Steppe sowie seinem abseitigen Personal treu. Der Blick voraus und zurück ohne Verklärung, die scharf modellierte Zeichnung des historischen Horizonts, die Fülle an Details und Farben, das flirrende Wechselspiel von Fakten und Fiktion sowie die Erkenntnis, dass es mit dem Planeten zu Ende geht: Das bringt die Romane von McEwan und McCarthy trotz aller Unterschiedlichkeit wieder zusammen.
"Ob Paradies oder Hölle, niemand erinnert sich nach einer Weile noch ganz genau."
Autor McEwan auf der ersten Seite von "Lektionen"
McEwan rekapituliert Teile der Geschichte des 20. und frühen 21. Jahrhunderts am Beispiel seines Barpianisten und gescheiterten Dichters, indem er in die Historien-und Nachrichten-Schnipsel die fiktive Geschichte eines Londoner Jedermanns mengt. Langweilig waren gemäß McEwan die vergangenen Dekaden nicht, um einmal eine der freundlicheren Vokabeln für die Epoche der Weltkriege und Massenmorde zu verwenden. Wenn nicht alles täuscht, ist "Lektionen" ein Buch, das den Menschen noch in 100 Jahren über die spaßigen Zeitgenossen, die ohne Kompass umherirrten, einiges erzählen könnte. Dafür spricht auch, dass "Lektionen" das hat, was gute Geschichten brauchen: die Schärfe des Witzes und des Galgenhumors, ein Tableau an interessanten Figuren und die Chuzpe, über die Stränge zu schlagen.
Baines fällt es in "Lektionen" nicht schwer, Tage und Wochen ins Blaue zu leben. Er kann auf Zeugen für seine Einsamkeit verzichten. Wie ein Reptil, das in jungen Jahren schon steinalt ist, sitzt er in seinem vor sich hin bröckelnden Haus, untermalt vom Grundrauschen der Enttäuschung über vertane Chancen und ungelebte Möglichkeiten. Er war Tennislehrer und als Postkartenpoet, der Kitsch mit Knittelversen verband, kurzzeitig sogar verhältnismäßig vermögend; als Musiker verwöhnt er Hotelgäste allabendlich mit "Mampfmucke". Nach außen führt er ein normales Leben, was nicht heißt, dass es dafür zwangsläufig in seinem Innern brodelt. Er kümmert sich, von seiner Frau verlassen, um seinen Sohn und sinniert über die Jugendaffäre mit seiner Klavierlehrerin, wenn er nicht gerade in zeithistorische Zusammenhänge stolpert.
In erzählerischen Schwenks wechselt McEwan die Perspektive. Auf die Einstellung des Baines'schen Lebensminiaturdramas folgt die Sicht aus der Distanz, die persönlichen und globalen Ereignisse und Zufälle werden kurzgeschlossen. Baines' Verwicklungen in die Epoche erinnern an ein überdimensionales Kugelstoßpendel, das so unaufhörlich wie monoton vor sich hin klackert: Privates wird von Politischem angestoßen, die Politik wirkt auf das Private zurück. Klick klack. Klick klack.
Baines verirrt sich nicht nur ein Mal unverhofft in den Zeitläuften: Tschernobyl, Margaret Thatcher, Muammar al-Gaddafi, Roland Reagan, Gorbatschow. Er berührt direkt und indirekt die Geschichte der deutschen Widerstandsbewegung Weiße Rose, Hitlers Nazi-Deutschland ("Sein Mund ist der stinkende Rachen der Hölle") und verläuft sich beim Fall der Berliner Mauer in den Menschenmassen. Klick klack. Jan Palach, der sich 1969 auf dem Prager Wenzelsplatz wegen des Einmarsches der sowjetischen Truppen in Brand setzte, spielt in "Lektionen" eine Nebenrolle wie die Kriege in Ex-Jugoslawien. Ebenso wie Osama bin Laden, Saddam Hussein, John Lennon, Thelonious Monk, Bach, Mozart, Henry Purcell, Bob Dylan und Elfriede Jelinek: Baines' Frau, die ihm den Rücken kehrte, wird eine berühmte Autorin mit Chancen auf den Literaturnobelpreis-den im fraglichen Jahr allerdings Jelinek überreicht bekommt. McEwans kurze Geschichte der Zeit ragt in die Gegenwart, bis zum Geifern der Wutbürger und Kapitol-Stürmer, zu Erderwärmung und Verschwörungswahn.
Gegen Ende seines langen, nicht eben ruhmreichen Lebens wünscht sich Baines ein Buch mit 100 Kapiteln, eines für jedes Jahr des bereits angebrochenen 21. Jahrhunderts. Abschnitt 21 (respektive das Jahr 2021) hat er in "Lektionen" bereits erreicht. Ein Blick in die Inhaltsangabe gefällig? "Konnte bei der Erderwärmung die Katastrophe abgewendet werden? War ein Krieg zwischen China und Amerika in den Stoff der Geschichte gewebt? Machte die globale Seuche rassistischer Nationalismen irgendwann etwas Edelmütigerem, Konstruktiverem Platz?"
Der Mensch? "Zehn Prozent Biologie und neunzig Prozent nächtliches Gerücht." - Cormac McCarthy auf der ersten Seite von "Der Passagier"
Es ist gut möglich, dass Cormac McCarthy für solche Fragen nur müdes Murren übrig hätte. Die Party ist vorbei. Davon handeln "Der Passagier" und "Stella Maris". Das Jahr 1980, New Orleans, Louisiana. Robert "Bobby" Western war Rennfahrer und ist inzwischen Bergungstaucher. Maulfaul lümmeln er und seine Radaubrüder in Bars, kaum je von Affekten bewegt.
Eine von Bobbys Barbekanntschaften trifft es ziemlich genau: "Heute habe ich einen Mann namens Robert Western kennengelernt, dessen Vater versucht hat, das Universum zu vernichten, und dessen angebliche Schwester sich als Außerirdische erwiesen hat, die von eigener Hand gestorben ist, und während ich über seine Geschichte nachgegrübelt habe, ist mir klar geworden, dass alles, was ich bezüglich der Menschenseele bisher für wahr gehalten habe, möglicherweise gar nicht zutrifft." Westerns Vater war Teil des sogenannten "Manhattan Project", das an der Atombombe arbeitete, die Anfang August 1945 über Hiroshima abgeworfen wurde. Roberts Schwester Alicia, eine Doktorandin der Mathematik, litt an paranoider Schizophrenie und Halluzinationen. In "Der Passagier" hat Alicia bereits Suizid verübt; der Begleitroman "Stella Maris" erzählt ihre Geschichte.
"Stella Maris" ist ein Dialog zwischen Alicia und ihrem Arzt in der gleichnamigen psychiatrischen Heil-und Pflegeanstalt in Black River Falls, US-Bundesstaat Wisconsin. Ein so wirres wie hellwaches Gegeneinander-Anreden in sieben Therapiesitzungen, das in Feststellungen wie dieser gipfelt: "Gott kann nicht zwei und zwei zusammenzählen. Eins und null-mehr braucht er nicht. Der Rest sind wir." Es gibt viele solcher Gaga-Sätze in "Stella Maris" an der Grenze zur Satire, auf dem weiten Feld der verdrehten Metaphern bewegt sich Alice mit Leichtigkeit. Öfter resigniert der Arzt: "Ich weiß nicht genau, was Sie damit sagen wollen."
Um jedoch einigermaßen im Leben voranzukommen, gehört das Verstolpern und Verirren für McCarthys Figuren unbedingt dazu. Was der Mensch denn sei, fragt einer in "Der Passagier": "Zehn Prozent Biologie und neunzig Prozent nächtliches Gerücht." Letzterem geht McCarthy in aller Genauigkeit und Faszination auf den Grund.
Stille und Schwärze am Schluss. Bald, orakelt McCarthy, werde der allerletzte Mensch allein im Universum stehen, während es um ihn herum dunkel werde. Ein letzter Blick in Roland Baines' Wunschbuch über das 21. Jahrhundert: "Wenn die Menschheit nur den letzten Tag des 21. Jahrhunderts erreichte, das Ende des Buches, müsste das seiner Meinung nach bereits als Erfolg gelten."
"Gott kann nicht zwei und zwei zusammenzählen. Eins und null - mehr braucht er nicht."
Auf einem seiner Tauchgänge zu einem abgestürzten Drei-Millionen-Dollar-Jet auf dem Grund des Golfs von Mexiko findet Western neun Tote in den Sitzreihen. Einer der Passagiere fehlt, was wiederum McCarthy zum Titel und Rätsel seines Romans macht. Später wird einer zu Western sagen, auch er sei ein "Scheißrätsel".
Altmeister McCarthy hegt das Endlosgeschwafel seiner Figuren eher lustlos ein. Fröhlich lässt er die Erzählung ins Mystische und Religiöse kippen und mischt Tiefgründiges, Philosophisches, Banales, Verquasseltes. Was gemeinhin Handlung heißt, ist hier noch einmal eine ganz andere Frage.
Bei McCarthy, dem Verächter hochgejazzter Literatur und gewieftem Falschfährtenleger, der die Technik des Verknüpfens loser Erzählfäden offenbar nur vom Hörensagen kennt, sollte man jedoch vorsichtig sein. "Der Passagier" und "Stella Maris" wirken wie zwei grobe Wörterblöcke, in die McCarthy nach Fertigstellung in seiner Schreibwerkstatt mit groben Vierkantfeilen tiefe Schrunden geraspelt hat, was zugleich den Reiz dieser Prosa ausmacht. McCarthy schreibt über Quantenmechanik und Joyce' "Finnegans Wake" (der wiederum McEwan das Motto für dessen Roman schenkte), über durchgedrehte Mathematiker und Schrödingers Katze, Wittgenstein und ehemalige Zirkuswahrsager als Detektive, dazu über Alkoholiker, die auf Kakerlaken schießen, und Nina, die Witwe des österreichischen Rennfahrers Jochen Rindt. David Lynch würde vermutlich zustimmen, wenn man behauptete, dass er "Der Passagier" und "Stella Maris" geschrieben haben könnte.