Band Liturgy
Aufgedreht

"93696" von Liturgy: Himmel und Hölle

Metal-Orchester: Die New Yorker Art-Rock-Band Liturgy ist unterwegs zu neuen Utopien.

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Während die Popmusik immer neue Heldenfiguren zwischen sex, drugs and rock’n’roll entwirft, gibt es Künstlerinnen, die nach Höherem streben. Die New Yorker Musikerin und Poetin Haela Ravenna Hunt-Hendrix sucht seit über einem Jahrzehnt nach einer Art Erleuchtung. Denn ihre Band Liturgy, mit der sie kürzlich das Album „93696“ veröffentlicht hat, ist ein existentialistischer Feldversuch zwischen Art-Rock und Black Metal.

Zoom-Anruf nach Brooklyn, New York City. Haela Ravenna Hunt-Hendrix, 38, hat sich Zeit genommen, um über ihr Doppelalbum mit dem kryptischen Titel zu sprechen. Denn die 15 neuen Songs auf „93696" schaffen einen mehrfachen Brückenschlag, blicken musikalisch in die Vergangenheit und in die Zukunft – und wirken bei aller Symbolik, die in den Texten verabreicht wird, auch sehr körperlich. Hunt-Hendrix, Kopf und einziges konstantes Mitglied der Band, nennt das Album „paradox“. Denn eigentlich war es stets ihr Bestreben, neue, avantgardistische Musik zu erschaffen. Aber vielleicht sei das gar nicht mehr so wichtig. „93696“ ist nun ihr Versuch, Metal und klassische Musik zu kombinieren – und dafür reiche es eben nicht, ein paar Streicher zu einem Rocksong zu mischen. Dieses Album müsse man vielmehr als Symphonie betrachten.

Hunt-Hendrix, die bis 2020 als Mann gelebt hat, hat klassische Musik studiert, sich in der New Yorker Avantgarde zu Hause gefühlt, andererseits seit ihren Teenagerjahren in Rockbands gespielt, dabei war sie regelrecht besessen von Bands wie Metallica, Marilyn Manson, Nine Inch Nails oder Sepultura und Darkthrone. „Keine Musikrichtung entwickelt derart hohe Energie wie Black Metal“, sagt sie. Ihre Evolution von der Brooklyner Underground-Szene zur viel besprochenen Pop-Größe (vor allem durch das 2011er-Album „Aesthethica“), beschreibt sie als äußerst schwierig, denn konservative Metal-Fans und -Kritiker agitierten gegen die Band. Es gab viel Feindseligkeit, meint Hunt-Hendrix: „Bei den Shows protestierten Menschen gegen uns.“

Das Musikgeschäft ändere sich gerade schnell und radikal. Wird man in ein paar Jahren noch auf Tour gehen und zusammen im Studio sitzen? Hunt-Hendrix wagt eine Prognose: Künstliche Intelligenz werde die Musik grundlegend verändern. Viel mehr noch als TikTok und andere soziale Netzwerke. Aber lieber spricht sie über das Hier und Jetzt. Sie könne es kaum erwarten, die neuen Songs live zu spielen (am 25. September wird Liturgy in der Wiener Arena gastieren). Denn Auftritte – da dürfe man den Bandnamen wörtlich nehmen – sollten vor allem eine mystische, sakrale Erfahrung sein, eine Möglichkeit, über die großen Themen nachzudenken; es geht um Souveränität und Hierarchie, um Emanzipation und Individualität. Folgerichtig wurde “93696” live und ganz oldschool auf Band aufgenommen, ohne Umweg über die Computer.

Liturgy: „93696“ (Thrill Jockey)

Auch ihre Arrangements haben sich stark gewandelt, erzählt Hunt-Hendrix noch. Die klassische Gitarre-Schlagzeug-Bass-Konstellation hat sie durch Synthesiser, Streicher und Samples erweitert. Auf „93696“ führt Liturgy die alte und neue Band-Welt – die nihilistischen Metal-Einflüsse und den verkopften Avantgarde-Pop – ineinander; das klingt nach dem Ende der Welt, aber mehr noch nach einer Utopie, die aus Ruinen neue Lebenswirklichkeiten entstehen lässt: eine Katharsis. Die Zahl „93696“ steht in der Liturgy-Philosophie für eine Idee von Himmel – und so soll das Werk auch klingen: Ekstatisch schön, nach einem Sinn im Leben suchend. Eskapistisch soll diese Kunst nicht sein, sondern neue Wege aufzeigen, dazu inspirieren, selbst Kunst zu machen – und daran zu glauben, dass eine bessere Welt möglich ist.

Philip Dulle

Philip Dulle

1983 in Kärnten geboren. Studium der Politikwissenschaft in Wien. Von 2009 bis 2024 Redakteur bei profil.