Malerei: Caravaggios präzise Visionen werden im KHM präsentiert
Caravaggios Name taucht mit schöner Regelmäßigkeit in den Feuilletons auf – und zwar immer dann, wenn die großen moralischen Fragen der Kunst diskutiert werden. Wie kein anderer alter Meister der Malerei muss der Barockkünstler als Kronzeuge für die Forderung herhalten, das Verhalten eines Künstlers gefälligst von seinem Werk zu trennen. Schließlich habe er gemordet! Solle man die genialen Gemälde wegen seiner Verbrechen etwa aus den Museen verbannen?
Zudem beschwört eine ganze Flut von Krimis – sie tragen Titel wie „Mit Blut signiert“ – das Image des Michelangelo Merisi da Caravaggio als Bad Boy des Barock. In reißerischen Verlagsankündigungen heißt es: „Michelangelo Merisi kennt keine Grenzen, er ist durch und durch maßlos.“ Oder: „Im Schatten des Petersdoms sinnt Michelangelo Merisi auf Rache.“ Die jüngste Meldung fällt ebenfalls in das Genre Thriller & Crime: Die Cosa Nostra soll für ein Gemälde von ihm, das 1969 aus einer Kirche in Palermo gestohlen wurde, Lösegeld erpresst haben.
Dem zuständigen Monsignore ließ man gar ein Fitzelchen Leinwand zukommen, ähnlich wie Kidnapper Gliedmaßen an die Verwandten ihrer Geiseln schicken. Das berichtete der britische „Guardian“. Der dazugehörige Groschenroman lässt bestimmt nicht lange auf sich warten.
Berserker-Image
Die Fachwelt betrachtet das Image Caravaggios als Berserker mit einer Mischung aus Belustigung und Nonchalance. Die Kuratorin und Kunsthistorikerin Gudrun Swoboda eröffnet diese Woche im Wiener Kunsthistorischen Museum (KHM), das derzeit heftige Turbulenzen erlebt, eine groß angelegte Ausstellung über den Barockmaler und seinen jüngeren Bildhauerkollegen Gian Lorenzo Bernini („Caravaggio & Bernini“, ab 15. Oktober). Die Verbrechen Caravaggios werden, so lässt sie schon vorher wissen, kein Thema sein.
Der Künstler, geboren 1571 als Michelangelo Merisi in Mailand, lernte beim lombardischen Maler Simone Peterzano und ging dann nach Rom, wo er in Kontakt mit den Strömungen seiner Zeit kam und für Klerus wie Aristokratie arbeitete. Sein unstetes Leben – tatsächlich wurde er einmal wegen Totschlags gesucht – führte ihn weiter nach Neapel, Malta und schließlich Sizilien. Dort, in Porto Ercole, verstarb er 1610 unter nach wie vor ungeklärten Umständen.
Sein Werk ist ebenso schmal wie einflussreich. Das Verzeichnis, das der in Wien lehrende Kunsthistoriker Sebastian Schütze 2009 erstellt hat, umfasst bloß 67 zweifelsfrei aus Merisis Hand stammende Gemälde. Nicht nur, dass er zu den Begründern des Stilllebens zählt, fand er auch in anderen Genres radikal neue Bildprogramme. Seine größte Neuerung war seine charakteristische und häufig nachgeahmte Lichtführung: Caravaggios Figuren wirken oft, als würden sie, von Scheinwerfern direkt angestrahlt, dem Dunkel ihrer Umgebung entrissen. Auch der verstörende Realismus, der den Betrachter unmittelbar und schonungslos ins Geschehen zieht, revolutionierte die Kunst: Da breitet etwa ein Jünger in dem Gemälde „Emmausmahl“ die Arme so weit aus, als wollte er den Betrachter ins Bild holen. In einem der drei Caravaggio-Werke, die das KHM besitzt, streckt ein jugendlicher David dem Betrachter den abgeschlagenen Schädel Goliaths entgegen: so nah herangezoomt, dass man dem Schrecken kaum entgehen kann. Nichts wird beschönigt in diesen Bildern. Die schmutzigen Fußsohlen von Betenden, wie sie etwa in der Wiener Rosenkranz-Madonna auftauchen, sind schon fast so etwas wie ein Erkennungsmerkmal des Kunstrevolutionärs.
„Was berührt uns, warum gehen uns die alten Meister heute noch an?“ Diese Frage treibt Expertin Swoboda um. Die Schau, die sie kokuratiert hat, setzt einen besonderen Schwerpunkt: Sie beleuchtet die Darstellung der Affekte im Rom des frühen 17. Jahrhunderts, als das Kulturleben der Stadt einen Höhepunkt erlebte. Swoboda: „In dieser Zeit beobachten wir ein neues Interesse an starken Gefühlen. Diese damals neue Emotionalität erscheint heute, wo wir ständig Emojis verschicken und Gefühle oft politisch wie ökonomisch instrumentalisiert werden, höchst aktuell.“
Lust und Schmerz
Auf Swobodas Schreibtisch liegen die Fahnen des Ausstellungskatalogs, die sie gerade noch einmal durchgeht. Da starrt ein schauriges Medusenhaupt einen mit aufgerissenem Mund an, dort versinkt ein Heiliger Franziskus in mystische Ekstase, und anderswo verfällt ein Knabe in manierierte Haltung, weil er von einer Eidechse gebissen wurde. Zahlreiche Beispiele von Werken anderer Künstler – nebst Bernini etwa Guido Reni, Artemisia Gentileschi sowie Guercino – werden verdeutlichen, welche Bedeutung die Darstellung von Emotionen damals einnahm. Dabei können Widersprüche in ein und derselben Figur auftreten, wie etwa im „Knabe, von einer Eidechse gebissen“, wo Lust und Schmerz gleichermaßen erlebt wird. Wie die Kunsthistorikerin im Katalog schreibt, wusste Caravaggio zu diesen Zwecken, wie später auch Bernini, ein beeindruckendes Arsenal aufzufahren: „Lichterscheinungen, Farben, bewegte Gewänder und Draperien.“ Das Spektrum reiche „von meditativer Versunkenheit bis zu wild bewegter Ekstase, von schmachtenden Blicken der Liebe bis zu tödlichem Schrecken oder einer Verzerrung der Gesichtszüge im höchsten Schmerz.“ Diese Affekte wurden darüber hinaus „beobachtet und reflektiert, das heißt zum Gegenstand einer zum Teil distanzierten, zum Teil auch amüsierten Betrachtung gemacht“ (Swoboda). Wenn in Caravaggios „Dornenkrönung“ des KHM ein Mann in Rüstung zuschaut, wie Christus gefoltert wird, kann sich das Publikum mit ihm identifizieren. Großes Kino.
Die Ausstellung und ihr Katalog demonstrieren zudem, wie ausgeklügelt und komplex Caravaggios Kunst ist. Sie widerlegt freilich sein Rabauken-Image. Wie hintergründig seine Kompositionen sind, zeigt sich in jedem einzelnen Bild. So zum Beispiel auf dem Gemälde von David und Goliath im KHM, in dem Ersterer sein Schwert schultert – eine außergewöhnliche Auffassung, die jedoch ihre Begründung in einer Bibelstelle findet. „Diese Darstellung ist unglaublich raffiniert“, sagt Swoboda. Ihre Analyse: „Caravaggio ist immer überraschend, originell, gelehrt und sensibel. Hinter dem Klischee, das üblicherweise bemüht wird, steckt ein künstlerisches Interesse, das diesem widerspricht.“
Eine der wichtigsten Caravaggio-Forscherinnen ist die Deutsche Sybille Ebert-Schifferer. Blättert man durch die von ihr verfasste Biografie des Malers, so schwindelt einem geradezu von den vielen Andeutungen in seinem Werk: Theologie, Philosophie, Naturwissenschaften, Alchemie, Optik, Geometrie, Literatur – die dramatischen Gemälde speisen sich aus einem reichhaltigen intellektuellen Unterfutter.
Rätselhaftes Leben und Werk
Das Berserker-Image relativiert sich zudem dadurch, dass sich manche der Verbrechen gar nicht zweifelsfrei belegen lassen. So wird Caravaggio gern als „Mörder“ tituliert. Dem liegt ein Totschlag im Jahr 1606 zugrunde. Ebert-Schifferer schreibt: „Der Tathergang wird widersprüchlich geschildert.“ Ermittlungsakten oder Urteile seien nicht erhalten. Fest stehe nur, dass Merisi einem Freund bei einem Rachefeldzug beistand; auf jeder Seite waren vier Bewaffnete beteiligt. Wer tatsächlich für den Tod des Opfers verantwortlich war, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. „Es war eine Frage der Ehre, an der vendetta aufseiten eines Freundes teilzunehmen. Der Tod des Gegners musste dabei billigend in Kauf genommen werden und war kein Anlass für lebenslange Gewissenspein, zumal der Verhaltenskodex gar keine Entscheidungsfreiheit ließ“, so Ebert-Schifferer. Dass Caravaggio öfter in Raufhändel verstrickt war, beweisen die Quellen zwar. Was genau aber in jener Nacht geschah, wird man nie erfahren. Eine weitere populäre Annahme – Caravaggios angebliche Homosexualität – lässt sich ebenso wenig belegen, noch weniger irgendwelche Eskapaden.
Nicht nur das Leben, auch das Werk des Italieners gibt Rätsel auf. So herrscht bis heute Unsicherheit darüber, wie er seine Bilder konstruierte. Zwar behaupteten angebliche Experten 2012, fast 100 Zeichnungen aus seiner Hand aufgestöbert zu haben. Die medial begeistert nacherzählte Meldung vom vermeintlichen Sensationsfund entpuppte sich – wie so oft – als Ente. Alles andere wäre auch erstaunlich gewesen, sind von Michelangelo Merisi doch keinerlei Zeichnungen bekannt. Aber wie schaffte er es, seine hochkomplexen Kompositionen auf die Leinwand zu bringen, ganz ohne vorbereitende Studien und Skizzen? Mittels komplizierter Konstruktionen aus Spiegeln und einer Camera obscura, wie der Maler David Hockney spekulierte? Laut dem Experten Sebastian Schütze fanden sich bloß zwei handelsübliche Spiegel in einem 1605 erstellten Inventar von Caravaggios Hausstand. Oder arbeitete er mit lichtsensiblen Chemikalien, die er auf die Leinwand anbrachte und die seine Modelle dort abbildeten? Auch diese Möglichkeit verwarf die Wissenschaft.
Fest steht nur: Der Meister legte häufig mit „incisioni“, also Einritzungen im Malgrund, eine Komposition fest. Bei manchen Werken wurden per Infrarotreflektografie zarte Unterzeichnungen festgestellt, wie der Spezialist Marco Cardinali in einem Bestandskatalog des KHM erklärte. Er malte „dal naturale“, also direkt vor den Modellen, und er nahm sich viel Zeit dafür. „Caravaggio ist keiner, der schnell etwas heruntermalt, sondern er ist langsam und bedächtig, muss sich selten korrigieren“, so Swobodas Beobachtung. „Als Künstler ist er überhaupt kein Hitzkopf, auch kein Schnellmaler, ganz anders als etwa Luca Giordano.“
Dass bis heute viele Unklarheiten in Werk und Leben des Michelangelo Merisi die Forschung erschweren, liegt daran, dass der Meister weder Nachkommen noch Schüler hatte, die sich um seinen Nachlass gekümmert hätten, wie Kunsthistoriker Schütze in seinem Buch ausführt. Seine Zeitgenossen konstruierten ein oft verzerrtes Bild. Deren Berichte sind daher mit Vorsicht zu genießen. Im Vergleich zu anderen Künstlern seiner Zeit ist die Quellenlage im Fall Caravaggio dürftig. Kein Wunder, dass vor diesem Hintergrund Kriminalgeschichten ebenso ungehindert blühen wie die künstlerische Kreativität im Rom des frühen 17. Jahrhunderts.