Marlene Streeruwitz: "Zeit hilft gegen Populismus"
Interview: Wolfgang Paterno
profil: Sie waren in den USA, als in Österreich die Bundespräsidentenwahl entschieden wurde. War die Abstimmung von New York aus leichter zu ertragen? Streeruwitz: Im Gegenteil: Die Nervosität steigt mit der Entfernung. profil: Wurden Sie auf die Ereignisse in Österreich angesprochen? Streeruwitz: Ja. Die „New York Times“ hatte einen bösen Artikel über Österreich gebracht, und ich habe uns verteidigt. Ich mag es nicht, wenn es lustig gefunden wird, auf Österreich hinzudreschen. profil: Mit „So wird das Leben“, Ihrem Online-Fortsetzungsroman zur Bundespräsidentenwahl, haben Sie sich in den vergangenen Monaten aktiv in die Politik eingeschaltet. Über dem Projekt steht auch die Frage, was Politik im „wirklichen Leben“ bedeutet und wie sie sich darauf auswirkt. Sind nicht viele Menschen für die Politik bereits verloren? Streeruwitz: Gegenfrage: Müssten denn Personen nicht erst einmal in die Politik eingebunden gewesen sein, um der Politik überhaupt verlorengehen zu können? Gibt es bei uns nicht noch immer diesen Abstand zwischen Regierung und Regierten? Und geht es nicht darum, diese Hierarchie so umzukehren, dass die Regierten endlich der demokratische Souverän werden und die Regierung beauftragen?
profil: Wie könnte das vonstattengehen? Streeruwitz: Das wäre eine Änderung in der politischen Kultur, die von beiden Richtungen angegangen werden müsste: von oben nach unten – als Wille der Politikerinnen und Politiker, die ihre Auftraggeber ernst nehmen; und von unten nach oben – indem der Souverän die Vertreter ernst nehmen kann. Es ginge also um die Beseitigung dieses aggressiven Minderwertigkeitskomplexes beider Seiten. Im Grunde geht es um Achtung, die es hier nicht gibt. profil: Ist die Lebensrealität nicht längst geradezu imprägniert von radikaler Politikferne? Streeruwitz: Es gab hier nichts anderes als diese radikale Trennung in die einen, die es machen, und die anderen, die nehmen müssen, was da gemacht wurde. Das ist Autoritätsgläubigkeit, die einen naiven Anteil hat. Österreich war schließlich seit dem 18. Jahrhundert eine Zentralbürokratiemaschine, die wenig Platz ließ für die Entwicklung eines politischen Selbstbewusstseins. profil: Der österreichische Mensch des 21. Jahrhunderts ist mental also noch tief im 18. Jahrhundert gefangen? Streeruwitz: Sogar eher noch im 16. Jahrhundert. Wir müssen uns immer daran erinnern, dass es unter den Habsburgern keine bürgerliche Salonkultur gab, in der sich Philosophie entwickeln konnte. Alles, wovon wir aus dieser Zeit kulturell leben, wurde am Hof Preußens oder in anderen Fürstentümern gefördert.
Darin beweist sich die Absicht der Rechten, einen strukturellen Umsturz der Verhältnisse erreichen zu wollen.
profil: Derzeit dringen ständig politische Beben ins private Leben: Syrienkrieg, Flüchtlingsströme, Ukraine-Krise. Wird sich die Gesellschaft nicht zwangsläufig wieder stärker politisieren müssen? Streeruwitz: Alle diese Vorkommnisse und die Schicksale, die daraus entstehen, spielen in den politischen Überlegungen aller eine Rolle. Diesen Informationen kann man ja nicht entkommen. Die Frage ist, wie diese politischen Überlegungen ausfallen. Der Hass auf die Flüchtlinge ist auch eine politische Reaktion. Es gibt keine Privatheit – und hat sie nie gegeben. Ich finde, dass eine kleine Spende für, sagen wir, Syrienflüchtlinge eine politische Handlung ist. Es geht sicher darum, eine bewusste politische Kultur zu entwickeln, die es ermöglicht, diese Politik auch bewusst erkennen zu können. profil: Brecht schrieb: „Ein besseres Volk haben wir derzeit nicht.“ Was also tun? Streeruwitz: Es schaut doch ganz gut aus. Es gehen über 70 Prozent zur Wahl. Der hetzerische Ton ließ sich nicht über längere Zeit aufrechterhalten. Waren es vielleicht doch Verantwortungsbewusstsein und die Erinnerung an die EU-Abstimmung, die zu dem vorliegenden Ergebnis der Bundespräsidentenwahl geführt haben? Viele mussten eine Menge Vorurteile durcharbeiten, um zu einer Entscheidung zu kommen. Das wird auch auf der Seite der Norbert-Hofer-Anhänger so gewesen sein.
profil: Heinrich Heine notierte, das Volk sei der „große Lümmel“. Eine gern ventilierte Idee vor allem nationalkonservativer Parteien ist es, wichtige Entscheidungen auf das Volk abzuwälzen. Soll man den großen Lümmel auf diese Weise zufriedenstellen? Streeruwitz: Nein. Es geht um Demokratie. Diese wird mit Volksentscheiden nicht verbessert, zumal ja auch immer die Hoffnung auf den Erfolg von Propaganda dahintersteht. Wie das gemeint sein kann mit den Volksentscheiden, wissen wir aus der Geschichte, und heute können wir das am Beispiel von Erdoğan in der Türkei studieren. Öffentliche Hysterie hat nie etwas mit Demokratie zu tun. profil: Ist der von vielen rechtsgerichteten Parteien geschürte Konflikt „Volk gegen Eliten“ Teil dieses umfassenden agonalen Denkens? Streeruwitz: Die rechten Parteien sind jene, die angreifen. Schon darin beweist sich die Absicht der Rechten, einen strukturellen Umsturz der Verhältnisse erreichen zu wollen. Übrigens handelt es sich dabei um eine Strategie der Linken aus den 1960er-Jahren: Die Anzugreifenden werden an die Vaterstelle gesetzt und zum „Vatermord“ freigegeben. Damals waren es allerdings wirklich die Väter, die Krieg geführt hatten.
profil: „Wir sind das Volk“ wurde in den vergangenen Jahren lauthals auf deutschen und österreichischen Straßen verkündet. Wer ist „Wir“? Und was heißt in diesem Zusammenhang „Volk“? Streeruwitz: Wenn die Leipzigerinnen und Leipziger sich 1989 als Volk bezeichneten, konnten sie das auf die Verfassung der DDR und die klaffende Lücke zwischen Verfassung und politischer Praxis beziehen. Wenn das bei einer Demonstration der „Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“ gerufen wird, dann ist wieder der Volkskörper des Nationalstaats gemeint – oder ganz offen eine völkische Volksvorstellung. profil: Geht von den „Wir sind das Volk“-Krakeelern auch eine reale Gefahr aus? Streeruwitz: Wir sollten alle Äußerungen ernst nehmen. Kollektivermächtigungen wie „Wir sind das Volk“ sollen wie Rammböcke gegen die sogenannte Obrigkeit eingesetzt werden, die ja wiederum jene Personen selbst sind, die „Wir sind das Volk“ schreien.
Ich finde die Ernsthaftigkeit, die FPÖ-Obmann Strache bei solchen Aussagen an den Tag legen kann, fast bewundernswert.
profil: Der österreichische Bundespräsidentenwahlkampf war auch von der Elitenproblematik geprägt. Ist es nicht einigermaßen paradox, dass die seit Jahrzehnten etablierte FPÖ den nach Jahren viel jüngeren Grünen vorhält, Teil des Establishments zu sein? Streeruwitz: Es wird einfach jedes Argument in alle Richtungen herumgeschleudert. Ein bisschen ist das auch zum Lachen. Ich finde die Ernsthaftigkeit, die FPÖ-Obmann Strache bei solchen Aussagen an den Tag legen kann, fast bewundernswert. Es geht offenkundig darum, den Glauben an sich selbst nicht zu verlieren. Das wiederum lässt auf totale Kritiklosigkeit sich selbst gegenüber schließen. Hier zeigt sich eben jene innere Unbefragtheit, die im Politmarketing dann Authentizität genannt wird. profil: Welche Feinmechanik des Propagandistischen steckt hinter den Elite- und Establishment-Attacken? Streeruwitz: Dazu fällt mir nur „Hobeln und Späne“ ein. Die FPÖ setzt den guten alten ödipalen Widerstand gegen all jene „Väter“ ein, die ihrer Meinung nach auf dem Weg an die Macht im Weg stehen. Die als „Väter“ markierten Personen oder Gruppen werden zum Abschuss hergerichtet.
profil: Norbert Hofer sprach Alexander Van der Bellen im Wahlkampf konsequent mit dessen akademischen Titeln an. Ist diese Titelhuberei im Grunde nicht eine Verächtlichmachung des Gegenübers? Streeruwitz: Ist es nicht rührend, Antiakademismus zu schüren, wenn es doch eindeutig ist, dass Bildung der einzige Weg der Zukunft ist? Das ist wirklich Irreführung in großem Ausmaß und widerlich. Es fördert eine maskulinistische Kultur des Widerstands gegen Bildung. Wir wissen, dass junge Männer wegen dieser Kultur ihre Schulabschlüsse versäumen. Lange Zeit wurden Lehrerinnen für die Bildungsferne der jungen Männer verantwortlich gemacht. Wir wissen aber heute, dass es eine Kultur in den Familien und in der Politik gibt, die diese Verachtung der Bildung und der Gebildeten hervorruft. Es ist Betrug an den jungen Männern, eine solche Kultur öffentlich zu vertreten. profil: Was hat die Wahl zum österreichischen Bundespräsidenten neben dem viel beschworenen gesellschaftlichen Richtungsstreit noch alles offenbart? Streeruwitz: Ich sehe, dass wir uns aufeinander auch verlassen können. Dass wir einander besser verstehen sollten. Dass wir alte Gräben herausfinden sollten. Dass die Frage, wie Frauen in Österreich leben, wieder von vorne gedacht werden sollte, alles gegen Frauenarmut gemacht werden muss. Dass Zeit gegen Populismus hilft. Dass am Ende die Wahrheit doch auch etwas wert ist.
profil: Hofer kleidete seine Niederlage in die Worte, dass er „gerne auf unser Österreich aufgepasst“ hätte. Braucht Österreich einen Aufpasser? Streeruwitz: Das ist so erhellend. Die FPÖ – wie viele andere Institutionen, etwa die Salzburger Festspiele – versucht, sich bei ihrer Klientel mit Begriffen aus dem Familienumgang anzubiedern. Das ist Marketing und behauptet eine emotionale Bindung, die aber nur als Wahl – respektive Kauf – Ausdruck bekommen kann, was sowieso schon emotionaler Betrug ist. Wer braucht eine Aufpasserei in der Politik. Da geht es um vertragliche Vereinbarungen und rechtliche Absicherungen. In der Familie geben wir aufeinander acht. In der Politik brauchen wir Vereinbarungen und Achtung und die Sicherung unserer Grundrechte. Aufpassen klingt schon nach Depperln, die es halt nicht können. Oder Kindergarten – und jedes Kind bekommt ein gelbes Hauberl, damit ja nichts passiert.
Es ist gelungen, die arrivierte Politik unglaubwürdig zu machen.
profil: In „So wird das Leben“ schreiben Sie: „Österreich. Das ist doch keine offene Gesellschaft.“ Was genau meinen Sie damit? Streeruwitz: Aus einer hegemonialen Logik der Geschichtsschreibung heraus ist die österreichische Kultur reaktionär. Es wäre fast erstaunlich, wäre es nicht so. Reaktionäre sind aber nicht nett und müssen sich mit hässlichen Ängsten quälen. Paranoia ist auch nicht weit. Alles sehr anstrengend. Bei dieser Wahl zeigte sich aber, dass es eine tiefe Auseinandersetzung damit gab, was dieser Staat sein könnte. profil: Populisten schürfen in den Archiven der Angst. Wie kann man ihnen Einhalt gebieten? Streeruwitz: Indem man der Wahrheit auf den Grund geht. profil: Liegt diese auf dem Tisch, wird sie aber oft weggewischt. Was schlagen Sie also vor? Streeruwitz: Insistieren und immer von Neuem beginnen – und es sich nicht langweilig werden lassen.
profil: Außer zuletzt in Österreich gewinnen Europas Populisten inzwischen so gut wie jede Wahl. Zuweilen wirkt die Szenerie wie bei einem Quiz: Derjenige, der die Frage richtig beantwortet, wird nicht gehört, weil ein anderer die falsche Antwort laut herausschreit und damit den Punkt gewinnt. Befinden sich die etablierten Parteien nicht in einer ähnlichen Lage? Streeruwitz: Es ist gelungen, die arrivierte Politik unglaubwürdig zu machen. Es ist gelungen, die seit dem Zweiten Weltkrieg und aus den Lehren von Krieg und Holocaust entwickelten Konventionen des Umgangs herabzuwürdigen. Es ist weiter gelungen, Antifeminismus als politische Rettung darzustellen und Frauen und andere Minderheiten wieder offen demütigen zu können und keine Folgen dafür erwarten zu müssen. Erst wenn wir geschlossen einen Weg finden, unsere Würde zu verteidigen und zu bewahren, wird sich die politische Kultur in Richtung Demokratie verändern können.
profil: Wahlen sind immer häufiger von dem Movens bestimmt, mit seiner Stimme das größere Übel zu verhindern. Eine fatale Entwicklung? Streeruwitz: Anlasspolitik ist schrecklich – und ungerecht. profil: Die Tendenz zur Anlasspolitik scheint sich aber zu verstärken. Ein Teufelskreis? Streeruwitz: Das kommt alles daher, dass die Unterhaltungsindustrie vorgibt, wie Kommunikation aussehen soll. Es geht immer um Aufbauschung, Überhöhung, Steigerung. Aber wird die Kritikfähigkeit, das zu durchschauen, in der Schule vermittelt? Es geht um Instrumente für den Alltag, die da notwendig wären. Es geht um die Ausdauer, sich mit dem Prozess des Demokratischen zu versöhnen. Es ist für eine katholisch grundierte Kultur schwierig, nicht ein für alle Mal gerettet zu sein, sondern in einen täglichen Kampf verwickelt zu werden.
profil: Der Politik wird gern Realitätsverweigerung vorgeworfen. Welche unliebsamen Wahrheiten müsste sie denn aussprechen? Streeruwitz: Wären das nicht Wahrheiten, die die Politiker selbst betreffen? Wenn zum Beispiel in der Finanzkrise die Gläubiger der Banken nicht an den Folgen beteiligt werden. Und wir wissen, dass es in Schweden 2008 nicht diesen Einbruch gab, weil dort die Gläubiger herangezogen wurden, während in Österreich einfach nur die Bevölkerung die Folgen tragen sollte. Wäre da nicht die Frage zu stellen, warum die Politiker und die vielleicht zwei Politikerinnen so entschieden haben? Was war es, was es diesen Personen möglich machte, eine solch weitreichende, ungerechte Entscheidung zu treffen? profil: Wohin driftet der Zeitgeist? Richtung Neo-Biedermeier? Direkt in den Neo-Konservativismus? Oder werden wir uns in fünf Jahren in einem noch radikaler dimensionierten Großen Gegeneinander wiederfinden? Streeruwitz: Es wäre schon gut, wenn alle – und wirklich alle – Menschen sich über ihre Interessenslagen klar würden. In den USA haben genau jene Personen, die Obamas Gesundheitsreform für ihr Überleben brauchen, Donald Trump gewählt, der Obamacare abschaffen will, es jedenfalls immer gesagt hat. Die Flucht in Identitätsangebote wie „weißer Mann“ – und die Angebote der FPÖ gehen in genau die gleiche Richtung – ist selbstzerstörerisch. Der Zeitgeist sollte also in Richtung Selbsterkenntnis gehen. Ob die antirationale populistische Politik ihren Siegeszug fortsetzen kann? So geradlinig wird das nicht geschehen.
Ich bin dafür, in jedem Augenblick alles verstehen zu wollen.
profil: Gesellschaft ist Arbeit. Ist die Politik an dieser Form der Arbeit überhaupt noch genügend interessiert? Streeruwitz: Es ist das große Problem seit den Schüssel-Regierungen, dass klassische gesellschaftliche Äußerungen wie Demonstrationen oder Volksbegehren wirkungslos gemacht wurden. Es ist, als wäre Österreich ein Kindergarten, und die lauteren Kinder werden zwar nicht mehr ins Eckerl gestellt, aber doch in aller Sanftheit in ihren Äußerungen übersehen. Timeout wird verhängt, als wäre politisches Interesse eine Krankheit wie ADHS. profil: Was hat die Pleiten-, Pech- und Pannenchronik der Wahl 2016 über die Lage des Landes verraten? Streeruwitz: Wir haben es ausgehalten. Es gab Gewalt, und das ist schrecklich. Irgendwie wurde dann doch eine Prüfung bestanden. Das haben wir alle nicht so exzellent gemacht, wie wir es von uns erwartet hätten. Deshalb herrscht Katzenjammer. Weil es aber auch gar keinen Grund für triumphale Gefühle gibt, ist das schon richtig. Das Unbehagen hat sicherlich auch damit zu tun, dass wir uns nicht zusammengehörig fühlen. Darüber ist nachzudenken. profil: War 2016 in Österreich politisch ein Ausnahmejahr? Streeruwitz: Wir haben die Jahre mit Waldheim hinter uns. Das sollten wir nie vergessen.
profil: Wie dramatisch hat die heimische Politik in der Flüchtlingskrise versagt? Streeruwitz: Das große Problem an der Flüchtlingspolitik – und die hat immerhin einen Bundeskanzler gekostet – ist doch, dass sie uns nicht vorgeführt hat, wie großartig wir hier aufgehoben sind, weil unsere Politikerinnen und Politiker eine solche Krise eben einfach bewältigen. Was wird sein, wenn wir selbst Objekte einer Krise wären? Würde dann auch über Obergrenzen gesprochen werden, wenn es um unsere Rettung ginge? profil: Befinden wir uns in einem Epochenbruch, den wir zur Gänze erst viel später realisieren werden können? Streeruwitz: Ich bin dafür, in jedem Augenblick alles verstehen zu wollen. profil: Woran denken Sie, wenn Sie „Politikverdrossenheit“ hören? Streeruwitz: Ich mag das Wort „Verdrossenheit“. Politikverdrossenheit ist aber doch wohl eher nur auf die Politiker und Politikerinnen zu beziehen. Wie sollen Personen, die nichts mit Politik zu tun haben, über das, womit sie nichts zu tun haben, verdrossen sein? Bei Politikern kann ich mir das jedoch vorstellen. Erwin Pröll zum Beispiel: Der muss doch politikverdrossen sein, oder? profil: Pröll scheint eher die Rolle des ewigen niederösterreichischen Landesvaters übernommen zu haben. Nötigt Ihnen seine politische Leistung mitunter Respekt ab? Streeruwitz: Nun, er macht seine Arbeit. Es könnte auch gesagt werden, dass Demokratie schon davon ausgeht, dass viele Personen beteiligt sein sollten. Vielleicht Arbeitsplatzteilung gegen Einsamer-Mann-Tendenzen?
profil: Hans Niessl koaliert im Burgenland mit der FPÖ auf Landesebene. Hat er als SPÖ-Tabubrecher der FPÖ damit auch auf Bundesebene Türen geöffnet? Streeruwitz: Das ist eben die postmoderne Auflösung von Institutionen. Ablehnung oder Abgrenzung ist ja auch eine Institution. Aber bedeutet diese Teileinladung nicht auch für die ganze SPÖ, sich die Tür offenzuhalten. Irgendwie macht es den Anschein, als würde auf allen Seiten alles so arrangiert, dass jedes Arrangement möglich werden kann. Klare Politiken sind das nicht. Das schaut immer ein bisschen schäbig aus. Die, die nicht an der Macht sind, können da schön eindeutig glänzen. profil: „Wutbürger“ ist ebenfalls eine der Vokabeln des Jahres. Kennen Sie einen solchen persönlich? Streeruwitz: Wenn ein Wutbürger jemand ist, der seinem oder ihrem Unmut in bürgerlicher Weise Ausdruck gibt, dann bin ich es als Demonstrantin gegen rechte Regierungen auch. Aber vielleicht wären die Bezeichnungen „Unmutsbürger“ und „Unmutsbürgerin“ richtiger. profil: Kann Wut jemals eine politische Kategorie sein? Streeruwitz: Kategorie vielleicht nicht. Aber sicherlich eine politische Bewegungsform. profil: Wird 2016 als Qualwahljahr in Österreichs Geschichte eingehen? Streeruwitz: Da reden wir zum nächsten Jahresende. Vielleicht erwartet uns ja ein historischer Triumph politischer Klugheit und demokratischer Selbstfürsorge.