Interview
Martin Pollack: "Wir sind gut beraten, mit dem Schlimmsten zu rechnen!"
Wer sich hierzulande mit der Zeit des Nationalsozialismus beschäftigt, kommt an Martin Pollack nicht vorbei. Ein profil-Gespräch über den eigenen Vater als Verbrecher und wie Österreichs Politik dem russischen Präsidenten den Rücken kratzte.
Von Wolfgang Paterno
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Herr Pollack, vor 65 Jahren erfuhren Sie von Ihrer Mutter, dass Ihr leiblicher Vater Chef der Linzer Gestapo gewesen war, zuständig auch für Transporte von Jüdinnen und Juden in den Osten so-wie für Hinrichtungen von Zwangsarbeitern. Wie erinnern Sie sich an den Buben von damals?
Pollack
Es war ein Schock! Ich wusste vage über Gerhard Bast als meinem leiblichen Vater Bescheid, meine Mutter hatte mir zuvor jedoch nie darüber erzählt. Man sprach nicht über die Vergangenheit. Sehr viel später begann ich mich mit dem Leben und Sterben meines Vaters zu beschäftigen. Als Bub wusste ich nicht, was sich hinter Wörtern wie "Gestapo" und "SS" verbarg.
Wie lange dauerte das Gespräch mit Ihrer Mutter?
Pollack
Nicht lange. Ich hatte den Eindruck, sie wollte überhaupt nicht darüber reden, obwohl sie natürlich alles wusste. Meine Mutter war keine große Intellektuelle, sie war aber auch nicht dumm. Mit meinen Großeltern väterlicherseits, die auf ihren Sohn Gerhard stolz waren, kam ebenfalls kein Gespräch zustande.
Die verzweigte Familie erschwerte die Annäherung an die Vergangenheit zusätzlich.
Pollack
Vom Linzer Stiefvater Hans Pollack wurde ich zu den Großeltern Bast nach Amstetten geschickt. Dort stieg ich aus dem Zug als Gerhards Sohn-und wurde durch die Stadt von einem ehemaligen Nazi zum anderen geführt. "Jessas, der Martin schaut ihm so ähnlich!" Ich bekam zu hören, was man einem Kind eben sagt. Kein Mensch in Amstetten hielt es für angebracht, dem Buben zu erklären, weshalb er in Niederösterreich einen leiblichen Vater gehabt hatte, der drei Jahre nach meiner Geburt auf der Flucht auf dem Brennerpass durch drei Schüsse ermordet worden war.
Wie denken Sie an Ihre Großeltern zurück, die so stolz auf ihren Kriegsverbrechersohn waren?
Pollack
Ich blicke mit Liebe auf sie zurück. Mit 23 brach ich aber mit meiner Großmutter, der Chefideologin der Familie und mit ihr mit der gesamten Familie väterlicherseits.
Eine Frage, die Sie Ihr Leben lang beschäftigte, war, wie Ihr Vater zum Mörder werden konnte.
Pollack
Mein Vater war ein normaler Mensch, kein geborener Verbrecher, kein Monster. Wie wurde er also zu dem, der er am Ende war? Es ist eine nicht enden wollende Geschichte, wie ich aus leidvoller Erfahrung weiß. Einem kürzlich entdeckten Polizeiakt ist zu entnehmen, wie er im März 1947 tot in einem Bunker am Brenner gefunden wurde. Es ist alles andere als angenehm, mit diesen so nüchternen wie detaillierten Schilderungen Jahrzehnte später konfrontiert zu werden: Der Vater lag wochenlang tot im Bunker, hatte zwei Schussverletzungen im Gesicht, eine in der Brust. So genau wollte ich es dann auch wieder nicht wissen.
"Erinnerung, sprich!", forderte der Schriftsteller Vladimir Nabokov. Sie stellten sich insofern nie taub.
Pollack
Natürlich nicht, auch wenn zuweilen völlig absurde Details zum Vorschein kommen. Entdeckt wurde der Vater in Südtirol von Beamten, die eine erste Beschreibung des Toten anfertigten-wobei am Ende insgesamt drei völlig unterschiedliche Beschreibungen ausgearbeitet wurden. Die einen schreiben, der Leichnam trug weiße Stutzen. Im selben Akt ist zu lesen, er habe dunkelbraune Strümpfe angehabt. Gewiss, das sind völlig bedeutungslose Erinnerungsbausteine. Dennoch waren sie für mich verblüffend.
Was überwiegt bei Ihnen beim Lesen dieser Akten: die Wissbegierde oder die Emotionen?
Pollack
Vor wenigen Tagen erst erhielt ich neue Dokumente aus der Slowakei. Mein Vater war Chef eines Sonderkommandos, das in der zweiten Hälfte des Jahres 1944 in der Slowakei für Erschießungen eingesetzt wurde. Vieles davon wusste ich bereits. Dennoch kommen ständig neue, entsetzliche Details zum Vorschein. Die Gefangenen wurden mit "Telefondraht" gefesselt, in einen Wald geführt und erschossen. In einer Schilderung tauchen zwei Mitglieder der Einsatzgruppe auf, die aus dem Wald mit zwei Paar Schuhen in Händen zurückkehren. Mit dem Auto fuhren sie ins nächste Wirtshaus und verhökerten die Schuhe der Opfer an den Wirt.
Nochmals: Wie wurde Ihr Vater zum Verbrecher?
Pollack
Es entzieht sich meiner Kenntnis, wann er diesen Sprung machte-vom gläubigen Nationalsozialisten zum Mörder. Er entstammte einer tiefbraunen Familie, wurde im Geist der Grazer Burschenschaften sozialisiert. Dass er später in die slowakischen Berge stieg, um dort Jüdinnen und Juden zu jagen- buchstäblich zu jagen, weil er tatsächlich Jäger war- ,das begreife ich bis heute nicht.
Der deutsche Publizist Niklas Frank trägt bis heute ein Foto seines hingerichteten Vaters Hans, des ehemaligen NS-Generalgouverneurs von Polen, in seiner Brieftasche. Frank sagt, dies sei seine Form der Rache.
Pollack
Das ist eine Haltung, der ich mich gegenüber immer verwehrt habe, dieses Urteilsprechen. Meines Erachtens steht mir das nicht zu. Die Taten meines Vaters sind verachtenswert. Dennoch habe ich mit ihm nie im Sinne einer totalen Verdammnis abgerechnet.
Vor zehn Jahren erschien Ihr Buch "Kontaminierte Landschaften". Lassen sich unsere durch die jüngere Historie belasteten Regionen überhaupt dekontaminieren?
Pollack
Wenn wir uns der Geschichte intensiv stellen und wahrhaftig versuchen, uns mit all dem auseinanderzusetzen, was passiert ist, kann dies durchaus geschehen-auch wenn besagte Landschaften in gewissem Sinne für immer kontaminiert bleiben werden.
Als sprechendes Beispiel dafür könnte jene Gabel dienen, die Sie einst im Garten Ihres burgenländischen Hauses fanden.
Pollack
Im Gemüsegarten tauchte eines Tages eine Gabel mit SS-Gravur auf, wunderbarer Stahl, nach Jahrzehnten noch völlig rostfrei. Makaber, dass dies ausgerechnet mir passieren musste! Mit einem solchen Fund kann man sich abfinden. Die Bedingung ist allerdings, dass wir uns ehrlich damit auseinandersetzen, nichts zudecken, verschweigen, nicht zu lange zuwarten. In der Disziplin des Zuwartens sind wir leider Weltmeister.
Wir müssten uns selbst mit der eigenen Geschichte konfrontieren.
Pollack
Es wird nach wie vor vergessen und verdrängt. Es ist kein Zufall, dass die Zeit des Rechtsextremismus gekommen scheint, in Österreich, Deutschland, Frankreich, Dänemark, Schweden, Italien, Ungarn, Polen. Haben die Menschen denn überhaupt kein geschichtliches Bewusstsein?
Es grassiert eine Geschichtsvergessenheit, die brandgefährlich ist.
Pollack
Absolut. Als "Spiegel"-Korrespondent für Wien und Osteuropa kannte ich den 2008 verunglückten ehemaligen FPÖ-Vorsitzenden Jörg Haider ganz gut. Der "Spiegel" und viele andere Medien machten Haider damals groß. Aus der Hamburger Redaktion kam ständig die Frage: "Was sagt Haider zu diesem oder jenem?" Haider wiederum hat das sehr geschickt ausgenützt. Er wusste genau, wie Medien manipulierbar sind. Haider hatte eine ähnliche Familienhistorie wie ich, vielleicht interessierte er sich deshalb auch für die Geschichte meines Vaters. Er sagte immer wieder: "Herr Pollack, was treibt Sie da? Warum lassen Sie die Geschichte nicht ruhen? Unsere Väter waren doch tolle Leute!"Er hat die Geschichtsvergessenheit eiskalt benützt, wie sie ihm gerade in den Kram passte. Haider war vermutlich kein Nazi im Herzen. Aber die FPÖ spielt bis heute ganz offen mit dieser Vergangenheit. Wir sind gut beraten und aufgefordert, uns mit der Geschichte zu beschäftigen und genau hinzusehen, was geschehen ist. Sonst passiert es abermals.
Gegenwärtig wird häufig der Vergleich zwischen der Weimarer Republik und dem Heute gezogen. Ist das angebracht?
Pollack
Soweit Vergleiche überhaupt zulässig sind. Es kann keine Rede mehr davon sein, dass Menschen durch Arbeitslosigkeit und triste soziale Umstände in die offenen Arme radikaler Parteien getrieben werden. Junge Leute, die nach drei Bier Hakenkreuze an Wände schmieren, müssen nicht hungern. Dennoch sehe ich Parallelen: siehe die Weigerung, aus der Geschichte zu lernen, die blinde Bewunderung des starken Mannes. Gerade in Österreich lässt sich eine fatale Verehrung von Wladimir Putins mörderischem Regime beobachten. Es ist entsetzlich, dass dies viele Leute in diesem Land nicht zu stören scheint.
Wie haben Sie den 24. Februar 2022 erlebt, als Putin den Angriffskrieg auf die Ukraine befahl?
Pollack
Mich hat der Angriff auf die Ukraine nicht verwundert. Es war mir dagegen immer ein Rätsel, wie das offizielle Österreich 2014 auf die Annexion der Krim reagiert hat. Mir fehlt jedes Verständnis dafür, wie der damalige Bundespräsident Heinz Fischer nur vier Monate nach dem russischen Überfall auf die Krim Putin in Wien liebevoll den Rücken kratzte! Dem Silberrücken Putin krault der kleinere Affe als Unterläufel devot das Rückgrat!
Ex-Kanzler Wolfgang Schüssel fuhr mit Putin Ski am Arlberg, die ehemalige Außenministerin Karin Kneissl übte sich nach dem Hochzeitstag im Fußfall vor dem Despoten.
Pollack
Das hat in Österreich Tradition. Es ist billig, wenn man nun allein auf die FPÖ hinhaut. Der sich gerade entrollenden Spionageaffäre widmeten sich ÖVP wie FPÖ jahrelang nicht sonderlich aufmerksam. Als Hort der Spionage hat das neutrale, kleine Österreich eine Sonderrolle inne. Es schmerzte mich, als Bundespräsident Alexander Van der Bellen mit allem Pomp den belarussischen Tyrannen Alexander Lukaschenko einlud. Man hätte 2019 wissen müssen, wer Lukaschenko ist. Im Nachhinein zu jammern, wir dachten doch, der sei ein Guter-also bitte! Dem kleinen Mann auf der Straße nehme ich es ab, Lukaschenko nicht so genau zu kennen. Politiker und Wirtschaftstreibende aber? Das ist nur mehr beschämend.
Seit Putins Angriffskrieg ist die Rede vom drohenden Dritten Weltkrieg. Wie sehr macht es Ihnen Angst?
Pollack
Ich genieße den zweifelhaften Luxus, schwer krank zu sein. Mich wird das Ende der Welt vermutlich nicht mehr antreffen. Der Dritte Weltkrieg ist abgesehen davon natürlich eine überaus reale Gefahr. Westeuropa hat sich, was Putin betrifft, in den Sack gelogen und wollte nicht wahrhaben, wie er zuerst Aggression aufbaute und mit dem Überfall auf die Ukraine sein wahres Gesicht zeigte. Europa war Russland gegenüber viel zu weich und nachgiebig.
Bertolt Brecht schrieb, das große Karthago habe drei Kriege geführt: Nach dem ersten war Karthago noch mächtig, nach dem zweiten noch bewohnbar, nach dem dritten nicht mehr auffindbar. Blüht uns Ähnliches?
Pollack
Gut möglich. Ich bin kein professioneller Schwarzseher, ausschließen lässt sich aber nichts mehr. Im Zweiten Weltkrieg wurden furchtbare Methoden zur Weltvernichtung angewandt. Inzwischen sind diese längst zur Möglichkeit gereift, den Planeten auszulöschen.
Große Frage: Ist unsere Demokratie in Gefahr?
Pollack
Auf jeden Fall. Wir können das am Beispiel Ungarns beobachten, wo Ministerpräsident Viktor Orbán die freien Medien kaputtschlägt, die Zivilgesellschaft nach Strich und Faden entmündigt, die Demokratie aushöhlt.
Wie widerstandsfähig schätzen Sie Österreichs Demokratie ein?
Pollack
Widerstandsfähigkeit? Da habe ich so meine Zweifel. Wir sind gut beraten, mit dem Schlimmsten zu rechnen. Wir müssen uns darauf vorbereiten, uns zu wehren. Es gibt auch hierzulande eine Partei, die darauf abzielt, die Demokratie zu demontieren.
FPÖ-Obmann Herbert Kickl träumt bereits von der Position des "Volkskanzlers".
Pollack
Ja, natürlich. Das ist eine real existierende Gefahr. Ähnlich wie Haider ist auch Kickl ein Populist und Verführer. Anders ist sein Erfolg nicht zu erklären. Geschichte wiederholt sich nicht. Es wird kein zweiter Hitler auftauchen. Aber auch ein "Volkskanzler" verlangt, dass ihm die Massen mit glänzenden Augen zuströmen.
Vor elf Jahren wurde bei Ihnen Blasen-und Prostatakrebs diagnostiziert. Grenzt es an ein Wunder, dass Sie am 23. Mai 80 werden?
Pollack
Meine Ärzte haben ein Wunder vollbracht. Mein Onkologe sagte mir kürzlich, ich würde schon dreimal länger leben, als ich mit dieser Diagnose eigentlich sollte. Mir selbst kann ich eine gute Kondition zuschreiben: Ich habe Krebs, bin sonst gesund. Meine Mutter starb an Krebs. Mein Vater wurde mit 36 ermordet. Er hatte also keine Gelegenheit, Krebs zu bekommen.
Wie ist es um Ihren Humor bestellt?
Pollack
Ich kann über alles lachen, auch über die Vorstellung meines eigenen Todes. Bei Begräbnissen wird oft und gern "I Did It My Way" am Sarg gespielt. Diesen Song möchte ich auf keinen Fall hören, wenn ich dereinst das Zeitliche segnen werde! Ich bevorzuge ein polnisches Chanson.
In Büchern wie "Anklage Vatermord" (2002) und "Der Tote im Bunker" (2004),im Reportageband "Warum wurden die Stanislaws erschossen?" (2008) und der Essaysammlung "Topografie der Erinnerung" (2016) bündelte Martin Pollack, 1944 im oberösterreichischen Bad Hall geboren, seine Methode der historischen Land- und Gesinnungsvermessung zur Meisterschaft. Wer sich hierzulande mit der Zeit des Nationalsozialismus beschäftigt, kommt an Pollack nicht vorbei.
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Wolfgang Paterno
ist seit 2005 profil-Redakteur.