Martin Walser
Irdische Suppe

Martin Walser: Irdische Suppe

Martin Walser unternimmt mit "Statt etwas oder Der letzte Rank" eine kühne Prosa-Achterbahnfahrt.

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Der poetische Querkopf und politische Dickschädel Martin Walser kann auf eine beachtliche Karriere als Schriftsteller und Bodenseeufer-Bewohner verweisen. Seit Jahrzehnten lebt er in Nußdorf am See; er ist einer der ältesten deutschsprachigen Autoren, vor exakt 61 Jahren ist sein erstes Buch erschienen; über 60 Titel umfasst sein Werk, viele davon sind längst Schullektüre. Spätestens seit 1998 wird Walser auch von einem Gewitter aus Schlagzeilen verfolgt, öffentliche Kontroversen hat er geradezu magisch angezogen: Damals sprach der Autor von der "Moralkeule Auschwitz" - und wurde als "geistiger Brandstifter" tituliert; 2002 erschien sein Roman "Tod eines Kritikers", in dem ein recht unverschlüsselt Marcel Reich-Ranicki nachgebildeter Publizist einem mordlüsternen Plan zum Opfer fallen soll -Walser geriet in Antisemitismusverdacht. "Ich bin kein Damenkränzchen", bekannte der Autor einmal.

Kurz vor seinem 90. Geburtstag begibt sich Walser in seinem neuen Roman "Statt etwas oder Der letzte Rank" gewissermaßen auf die Reise ins Innere. "Rank" ist reines Alemannisch: Wer den Rank nicht findet, kommt seinem Ziel nur auf Umwegen näher; Wirtshaushocker, die partout den Nachhauseweg nicht antreten wollen, finden ebenfalls nicht den Rank, wie jene, die abends im Bett liegen und vergebens einzuschlafen suchen. Auch Walsers Protagonist hat sich zwischen Anspruch und Wirklichkeit verheddert: Im Roman besichtigt der wahlweise Otto, Caro oder Bert genannte Erzähler, der sich selbst zuweilen mit "du" und "er" anspricht, sein Leben. Als Mann auf Abwegen, im Modus zunehmender Auflehnung und Aufgekratztheit, durchforscht und bilanziert er seine Geschichte, ohne diese retrospektiv in geordnete Bahnen zu lenken. "Statt etwas oder Der letzte Rank" ist das formal fulminante Abbild jenes aussichtslosen Versuchs, Systematik in das Gefühls-und Gedankendurcheinander zu bringen: Selbstbefreiung und Selbstfeier, die immer wieder in Selbstgeißelung und Selbstanklage kippt.

Gemenge von mitunter hoher Komik

Walser lässt dabei viele Zwänge des formalisierten Romanerzählens hinter sich und etabliert eine Art Endlos-Sudelbuch der Satz-und Geistesblitzsplitter, in dem er kühn Weisheiten und Plattitüden, Spitzfindigkeiten und Gemeinplätze mischt. Ein Gemenge von mitunter hoher Komik: "Der Stein, den ich gewälzt habe, war ich selbst", ächzt der Erzähler. Später bekennt er: "Immer diese Mühe der Selbstverkleinerung. Immer die Angst, ich könnte für kühn oder anmaßend oder angeberisch gehalten werden. Oft wusste ich, wenn ich vor Selbstverkleinerungsmühen erschöpft war, nicht mehr, was überhaupt der Anlass der Selbstverkleinerung gewesen war." Dann überlässt er sich dem faulen Zauber des Pathos: "Ich kochte den Schmerz, die irdische Suppe! Wenn du nicht gewesen wärst, Sprache, hätte es mich nicht gegeben." Und da wäre auch noch der Traum von Sartre in Amsterdam:

Der französische Philosoph sitzt bei Walser in Utrecht auf dem Bahnsteig in einer Kunststoffschale zwischen den Gleisen 3 und 7 und liest das Fahrplanheft, als wolle er es auswendig lernen, ohne je umzublättern: "Die Lippenbelebtheit. Beim Lesen blühen ja vor allem die Lippen auf. Sie wollen buchstabieren, was man liest." Bei Walser beben, buchstabieren, beten Sartres Lippen.

Der Ich-Umkreiser im Roman, das neuralgische Zentrum einer kleinen Welt, kommt sich nur langsam auf die Schliche. Er will, eine leere Wand anstarrend, eigentlich schweigen, indem er den Zustand völliger "Satzlosigkeit" erreicht. Gemäß der alten Binsenweisheit, wonach man immer einmal mehr aufstehen als hinfallen muss, gerät er jedoch ständig ins Fabulieren, das sich zuallererst in seinem Kopf abspielt (und sich als durchdachtes Durcheinander in "Statt etwas oder Der letzte Rank" manifestiert):"Ich lebte, soweit ich lebte, von Erdachtem." Zu schweigen, wenn alles rumort, wäre vielleicht auch seltsam.

Koketterie, Selbsthass, Selbstmitleid

Hier versucht sich einer an der Verwaltung seines Innenlebens. Wie ein ratloser Forensiker am Tatort eines Verbrechens steht der Egomane vor dem Desaster seiner Vita, die nur in Spurenelementen angedeutet ist: Er schreibt Bücher, schaut Fußball, denkt über Europa nach, liebt sehr viele Frauen, fährt gegen die Einbahn, steht in einem Beleidigungsprozess vor Gericht und erwacht eines Morgens mit böser, an Kafka gemahnender Ahnung: "Alles in ihm und an ihm fühlte sich viereckig an. Ein leichter Schmerz im Unterleib, er spürte ihn als ein Viereck. Das an Schmerz grenzende Gefühl im Kopf: eindeutig viereckig." Das Entsetzen über sich selbst ist groß und die Rätselhaftigkeit nicht minder; mit leichter Hand rührt Walser die Mixtur aus Koketterie, Selbsthass, Selbstmitleid an: "Mach aus deinem Alleinsein nicht einen solchen Zirkus. Du bist dein einziger Zuschauer." Was, fragt der Protagonist, wäre er ohne Schmerz? "Eine knapp noch atmende Ruine." In den schwächeren Passagen des Romans widmet sich Walser, kein Verächter selbstverliebter Töne, ganz explizit den Spielformen des autobiografischen Erzählens. Der Berichterstatter rechnet mit seinen schreibenden Kollegen ab; hinter der Figur des "Feuilletongewaltigen" blitzt etwa ungeschickt die Person des 2014 verstorbenen Journalisten Frank Schirrmacher hervor, der einst den Vorabdruck von Walsers Roman "Tod eines Kritikers" in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" verhindert hatte.

Nicht zuletzt handelt "Statt etwas oder Der letzte Rank" vom Tod. Der Erzähler schreibt gegen den "schwarzen Schlund" an, er stemmt sich mit Schreiben gegen das Verschwinden: "Mich kriegte er nicht, solange ich Wörter hatte. Die Verstummten hat er gekriegt. Mein Mund war eine gute Wehr. Wörter, ein glitzerndes Gut." Martin Walser hat kürzlich erklärt, er sitze bereits an seinem nächsten Buch.

Martin Walser: Statt etwas oder Der letzte Rank. Rowohlt, 171 S., EUR 17,50

Wolfgang   Paterno

Wolfgang Paterno

ist seit 2005 profil-Redakteur.