Medientheorie der Corona-Krise: Künstlich ist die Nacht
Das Virus mutiert und die Welt mit ihm. Wir stehen auf schwankendem Grund, erleben einen ungeahnten sozialen und medialen Paradigmenwechsel, eine globale Transformation, von der noch nicht absehbar ist, wohin sie uns führen wird: in die anhaltenden Wirren einer hochaggressiven, gespaltenen Gesellschaft - oder doch in eine Zukunft, in der die erzwungene Unterbrechung unserer zerstörerischen Denk- und Lebensweisen einen Erkenntnisprozess in Gang gesetzt hat, der zur möglichen Genesung eines schwer angeschlagenen Planeten beitragen kann. Werden wir also zur Vernunft kommen - oder in Vereinsamung (durch das verordnete Minimieren physischer Kontakte), Fehlsichtigkeit (vom unentwegten Starren auf Computer- und Smartphone-Screens) und Trägheit (infolge der Ereignislosigkeit des neuen Alltags) versinken?
"Medien sind keine neutralen Werkzeuge, sie haben Macht." (Roberto Simanowski)
In dem jüngsten, soeben im Wiener Passagen Verlag erschienenen Buch des deutschen Kulturtheoretikers Roberto Simanowski, das dieser "Das Virus und das Digitale" genannt hat, wird die Pandemie aus unüblicher, nämlich medienwissenschaftlicher (also ausnahmsweise nicht primär politischer, soziologischer oder virologischer) Perspektive betrachtet. Karl Valentins alte Weisheit, der zufolge zwar schon "alles gesagt" sei, "nur noch nicht von allen", greift hier nicht. Natürlich: Die Feststellung, dass weite Teile der Menschheit seit über einem Jahr einen Digitalisierungsschub erleben, ist an sich banal. Simanowski entlockt seinem Thema jedoch unerwartete Aspekte, indem er beispielsweise jenen technisch induzierten Narzissmus analysiert, der sich aus der täglichen Auseinandersetzung mit dem eigenen Abbild, mit der "Selfie-Situation" in den Videokonferenzen ergibt, die viele von uns zu absolvieren haben.
Roberto Simanowski, 58, erscheint am Computer-Bildschirm, er lächelt aufgeräumt. Überpünktlich hat er sich, auf Anfrage von profil, zu diesem Zoom-Gespräch zwischen Wien und Berlin eingewählt. Man sieht, wenn man sein Buch gelesen hat, auch dieses digitale Interview mit anderen Augen, denkt an das "Optisch-Unbewusste", von dem er schreibt, an all die Dinge, die man preisgibt, wenn man das Berufliche mit dem Privaten, dem Blick ins Rückzugsgebiet des Eigenheims verbindet. Inzwischen gibt es bereits Apps, mit denen die Gesichter jener, die an Videokonferenzen teilnehmen, auf Affekte und unbewusste Regungen hin durchleuchtet werden können; die radikale neue Transparenz macht Kontrolle und Überwachung am Arbeitsplatz und im Homeoffice möglich: Sogar das unwillkürliche Zucken eines Mundwinkels im Gesicht des Angestellten nach Ermahnung durch die Chefin kann so zu einem Hierarchieproblem werden (und Simanowski zitiert hier Benjamins "Dynamit der Zehntelsekunde"). Demaskierung und Selbstentlarvung vor der PC-Kamera sind naheliegende Risiken jedes virtuellen Treffens. Und in Zeiten, da man einander auf der Straße maskiert nicht mehr anlächeln kann, muss man eben auf sein E-Charisma achten.
Die Medienwissenschaft sei interessanterweise bislang in Sachen Viruskrise kaum konsultiert worden, sagt Simanowski. Dabei ist Medienkompetenz entscheidend, wie nicht nur der via YouTube berühmt gewordene, irrtümlich zugeschaltete Katzengesichtsfilter im virtuellen Juristen-Meeting zeigt, sondern eindringlicher noch der Fall eines "New Yorker"-Journalisten beweist, der im Oktober 2020 im Zuge einer Zoom-Konferenz masturbiert und dabei vergessen hat, seine Kamera auszuschalten. Wer sich jetzt nicht technisch so weit auskennt, dass er ungewollte Einblicke in sein Privatleben verhindern kann, gehört schon zu den Abgehängten. "Es geht nicht nur um praktische, sondern auch um philosophische, kulturelle und soziale Medienkompetenz", meint Simanowski: "Das alles brauchen wir als Gesellschaft. Dazu gehört auch, dass wir bei Peinlichkeiten und Schusseligkeiten anders reagieren können, nicht nur spontan radikal aufschreien müssen. Denn wo ist das Verbrechen eines solcherart bloßgestellten Journalisten? Man ist schockiert, aber vor allem, weil sein Privatleben so leicht in unseren Blick geraten konnte. Das ist eben das Problem von Medien, die wir zu sehr in unseren Alltag hineinnehmen. Dieser Aspekt kam in der Diskussion um jenen Eklat aber nicht vor. Wir brauchen mehr Medienreflexionskompetenz, nicht nur Mediennutzungskompetenz."
Mit wohlfeilem Pessimismus hält Roberto Simanowski sich zurück. Die neue Lust daran, in den Lockdowns vieles zu verpassen, habe die Angst davor verdrängt: Im Chat-Slang spricht man inzwischen eher von "JOMO" als von "FOMO" (also von joy statt fear of missing out). Eine sanft techno-positive Neigung ist Simanowskis Denken anzumerken; die vom "Überwachungskapitalismus" sabotierte Corona-Tracking-App lehnt er nicht grundsätzlich ab. Die Möglichkeit einer Wendung hin zum Guten, einer Selbstfindung nach Entschleunigung und Bewusstseinsbildung, kommentiert er dann aber doch mit einem ironischen Satz: "Elend ist besser zu ertragen, wenn es einen tieferen Sinn hat."
Digitalisierung sei "Datafizierung", schreibt der Autor. Und all die gesammelten Daten seien und blieben potenziell analysierbar. Als Optimisten würde er sich nicht bezeichnen, sagt Simanowski im profil-Gespräch, "aber Pessimismus hilft uns gerade nicht weiter. Obwohl ich die sogenannten Kulturpessimisten, die ich eigentlich als Kulturkritiker sehe, gegen die oberflächlichen Enthusiasten immer verteidigen würde. Wer Kritik übt, tut dies ja mit der Hoffnung, dass Veränderung noch möglich ist und ist insofern auch optimistisch. Dass man über all die Dinge, die schiefgehen können, noch redet, zeigt, dass man den Glauben an die Veränderung, an den Nutzen des Redens nicht verloren hat." Er sei aber auch schon als Technik-und Kulturpessimist bezeichnet werden. Was ihn nicht erstaune, immerhin sei seine Weltsicht stark von der Kritischen Theorie bestimmt. Aber ihm gehe es nicht um die Durchsetzung einer Theorie, sondern um die Logik konkreter Phänomene. In seinem Buch "Todesalgorithmus" (2020, ebenfalls Passagen Verlag) hieß er versuchsweise sogar eine ökologisch gepolte Diktatur durch künstliche Intelligenz gut. Denn er mag es, mit seinem Denken "an Grenzen zu stoßen, an denen ich mich selbst fragen muss, ob ich die Dinge, für die ich plädiere, eigentlich noch ernst meine oder schon ironisch setzen muss".
Im Übrigen sei er Marshall McLuhans Meinung: "Die Medien sind keine neutralen Werkzeuge, sie haben die Macht, uns ihre Postulate aufzudrängen. Wir werden den gegenwärtigen Digitalisierungsschub weder vermeiden noch zurückdrehen können. Ob digitaler Unterricht, Homeoffice oder Streaming: Was sich jetzt bewährt, wird bleiben. Man darf aber auch nicht einfach alles befürworten, was bislang als problematisch galt. Digital is the new normal? Mag sein, aber nur dort, wo es auch Sinn ergibt. Homeoffice wird postpandemisch weiterhin CO2-Werte senken, weil Bewegung vermieden wird. Homeschooling dagegen hat, weil es um Kinder und Pädagogik geht, zu viele Nachteile."
Auch das Feld der Kunst, das von der Krise mit am härtesten getroffen wurde, ist bekanntlich in radikaler Veränderung begriffen (siehe dazu auch unsere Überlegungen zum Opern-Streaming-Boom sowie zum neuen Vereinzelungsund Hometheater auf den vorhergehenden Seiten).Theater-und Filmemacherinnen, Opernleute und Musiker produzieren inzwischen in großem Stil "für daheim"und so vehement, dass man fürchten könnte, die Welt habe sich bereits daran gewöhnt. Simanowski glaubt dennoch an die Rückkehr einer gemeinschaftlich erlebten Kultur: "Es macht ja auch Spaß, das Haus zu verlassen, das sind Ausflüge, es geht um das Ereignis, um die Abendplanung, um den Tapetenwechsel, nicht nur um die Begegnung mit dem Kunstwerk. Und Live-Abende, Konzerte, Performances funktionieren eben am Bildschirm viel weniger, weil man den Saal spüren muss, das Feedback der Leute braucht. Die kollektive Rezeption wird weiterhin eine Rolle spielen."
Die Krise, so schreibt er, habe immerhin eine beispiellose Politisierung, eine neue soziale Selbstreflexion hervorgebracht. Die Pandemie sei "auch ein Gelegenheitsfenster für neue Sichtweisen". Der Ökonom Milton Friedman proklamierte die Krise einst als Chance. "Das vorher Unmögliche wird zum politisch Möglichen. Alternativen tun sich auf, man muss nicht zwangsläufig zum davor Bestehenden zurück. Allerdings kommt es darauf an, welche Theorien und Positionen in diesem Moment bereitstehen. Die Argumente dagegen werden früh genug vorgetragen werden, und es wird genug Menschen geben, die alles so wie früher haben, auch wieder zum Einkaufen nach New York fliegen wollen. Aber die Alternativen sollten dann auf dem Tisch liegen, und die Hoffnung ist, dass man nach dieser Erfahrung merkt, wie fragil das Leben ist-und dass man dann auch die Klimafrage bedenkt und in sein Handeln miteinbezieht."
Eine düstere Prophezeiung hat Simanowski an den Beginn seines Buches gestellt: 2021 werde als das Jahr der Demokratiekrise in die Annalen eingehen. "Was passiert denn, wenn ein autoritär geführtes System wie China oder ein autoritärer Demokratismus wie in Singapur oder Taiwan sich im Kampf gegen die Pandemie als viel effektiver erweist? In Ostasien gibt es keinen so stark ausgeprägten Individualismus wie im Westen. Massive Einschränkungen werden dort mit weniger Widerrede hingenommen. Bei uns aber denken alle-wegen Internet und Aufklärung-,sie könnten und sollten mitreden. Das Ende der Gatekeeper, das ja auch den Tod der Experten bedeutet, hatte schon vor Jahren seine Schattenseiten, die wir jetzt noch deutlicher sehen: wenn heute etwa in Deutschland ein veganer Koch und, Querdenker' mehr Gefolgschaft und Autorität in Sachen Pandemie hat als ein Virologe."
Immer weniger Menschen glauben an Experten und an die offiziellen Medien, meint Simanowski. So werde die Demokratie "ausgehebelt und funktionsuntüchtig. Corona ist für mich ein erster großer Beleg dafür, dass wir diesen Punkt erreicht haben."Angesichts des drohenden ökonomischen Desasters könnte es bald heftigere Ausbrüche als lediglich "Querdenker"-Demos mit Maskenverweigerung geben. Die Idee eines Bürgerkrieges hält Roberto Simanowski "nicht für abwegig. Weil wir schon vor Jahren durch die digitale Kommunikation und die sozialen Medien verlernt haben, angemessen zu diskutieren: also zuzuhören, auf andere einzugehen, auch die eigenen Fundamente infrage zu stellen. Die Positionen spitzen sich stattdessen immer weiter zu. Dieser Krieg gegen das Virus führt die Nation nicht zusammen." Es gebe zwar viel Nationalismus, aber für einen Krieg, der eine Nation zusammenschweiße, brauche man Menschen als Feind. Dem Kampf gegen ein Virus fehle die Grenze zwischen den Nationen. "So nutzt dieser Krieg dem inneren Frieden nicht, so verschärfen sich die Konflikte eher noch. Hinzu kommt der Verlust unserer Diskussionskultur durch die sozialen Medien, die zunehmende Unfähigkeit, konträre Inhalte noch sachlich auszudiskutieren. Wenn dazu dann der sich radikalisierende Kampf um ökonomische Ressourcen, um Aufstiegschancen kommt, ist das alles schon eine schrecklich gute Basis für einen Bürgerkrieg."
Auch wenn dieser nicht eintreten sollte, die große Frage bleibt: Wird sich, wenn wir diese Pandemie irgendwann im Griff haben werden, eine fundamental veränderte Menschheit zeigen? Oder wird man, wie viele glauben, einfach zurück in die ersehnte "Normalität" schlüpfen? "In diesem Moment der Unverfügbarkeit und des Eingedenkens merken wir auch, was wir alles nicht brauchen. Das Eingespielte ist unterbrochen, und wir erkennen plötzlich wieder, was uns wirklich wichtig ist. So kämen wir raus aus der Routine. Man hofft darauf, dass die Politik sich radikal wandeln kann, dass der Neoliberalismus am Ende ist, weil es so viele Bereiche gibt, wo man ihn, wie man sieht, nicht heranlassen darf: an ein ökonomisch organisiertes Gesundheitssystem etwa. Ob das aber wirklich zu nachhaltigen Änderungen führen kann, wird erst die langfristige Beobachtung zeigen."
Roberto Simanowski: Das Virus und das Digitale Passagen Verlag. 136 S., EUR 17,40