Kultur

Menasse: Männer, die auf Ziegen starren

Europa lässt den Schriftsteller Robert Menasse auch in seinem neuen Roman nicht los. Wolfgang Paterno über das EU-Epos „Die Erweiterung“, in dem der Staatenbund schlingert, aber nicht sinkt.

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Solche Helden sind selten. So gut wie alles dreht sich hier um einen Weißmetallhelm mit vergoldetem Ziegenkopfaufsatz, ein unförmiges Etwas von Kopfschmuck, das wie eine Mischung aus Jagdtrophäe und umgestülptem Topf aussieht. Dabei ist der Helm des Skanderbeg, der sich in der Sammlung des Wiener Kunsthistorischen Museums befindet und im Weltmuseum ausgestellt ist, vielen heilig. Sehr vielen. 


In Robert Menasses neuem Roman „Die Erweiterung“ umkreist das Geschehen in einem Labyrinth aus Achterbahnschlaufen die Skanderbeg-Haube, die eigentliche, von einer ganzen Phalanx an Figuren flankierte Hauptdarstellerin des Buchs: Frauen und vor allem Männer, die auf einen Ziegenkopf starren. 
Der 1468 verstorbene Fürst Gjergj Kastrioti, besser bekannt unter dem Namen Skanderbeg, ist bis heute Albaniens Nationalheld, der Triumphator über die Osmanen. Seit 400 Jahren hoffen die Albaner auf Rückgabe von Helm und Schwert aus Wien, 2012 waren die Insignien 45 Tage lang in Tirana ausgestellt, 1,8 Millionen Menschen flanierten an den Schaukästen vorbei. Um das fürstliche Ziegenhaupt veranstaltet Menasse ein beschwingtes Prosaballett um Korruption, Komplotte, Kungelei und Kunstraub, vom Wiener Weltmuseum über Tirana, Warschau und Brindisi bis in die Provinzeinöde Albaniens, komplettiert von einer Beamtenschar der Europäischen Kommission. Es geht um gewaltige Unterfangen und maßgebliche Richtungsentscheidungen, Mord und Totschlag, um die Zukunft des Kontinents, die in Hinterzimmern und im Rahmen informeller Zusammenkünfte ausbaldowert wird. Es geht um alles, also um fast nichts.


Europa lässt Menasse, 68, nicht wirklich los. Vor zehn Jahren veröffentlichte der Schriftsteller und Essayist die in jedem Sinne beherzte Streitschrift „Der europäische Landbote“, Ergebnis eines mehrmonatigen Brüssel-Aufenthalts; für den EU-Roman „Die Hauptstadt“ wurde er 2017 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet. Nun also „Die Erweiterung“, mehr Fortschreibung als Fortsetzung von „Die Hauptstadt“. 

Wenn eine Idee verrückt ist, funktioniert sie nicht, aber wenn sie fantastisch ist, kann sie Wirksamkeit entfalten.

Robert Menasse

Albanien, die Hauptkulisse in „Die Erweiterung“, liefert Menasse den idealen Handlungsort für seine von tektonischen Wellen durchzogene Unruhegeschichte. Der kommunistische Diktator Enver Hoxha riegelte das Land ab 1944 fast vollständig von der Welt ab, mehr als 40 Jahre lang machte das freie Leben im Land Pause. Hoxha degradierte Albanien zu einem Entwicklungsland, ökonomisch, sozial, kulturell, ökologisch. Er bunkerte sich und seine Untertanen buchstäblich ein: Der 1985 verstorbene Diktator ließ Gefängnisse und Strafcamps errichten, kilometerweise Stacheldraht spannen und Hunde scharf abrichten, Zäune und Verschläge in die Erde graben. Gezählte 221.143 Bunker wurden auf Tausenden von Plänen und Landkarten geplant, 173.371 schließlich in Beton und Stahl gebaut. 13.692 Menschen flüchteten zwischen 1944 und 1990 aus dem Staat, 980 davon starben an den Grenzen einen gewaltsamen Tod. Albanien, das seien 3000 Jahre Geschichte und 6000 Kriege; so kann man das öfter hören, bewegt man sich in dem Land. Am 20. Februar 1991 brachte das Volk im Zentrum Tiranas eine überlebensgroße Statue des Autokraten zu Fall und erzwang die demokratische Wende.


Auftritt eines drollig verschrobenen Königs. Der albanische Ministerpräsident, von seinen Beratern stets „ZK“ („Zoti kryeministër“) gerufen, ein Mann mit der Anmutung eines Wasserbüffels, hat sich für die Pausen zwischen Regieren und Wichtigsein im Hof des Präsidialsitzes einen Basketballplatz anlegen lassen. Um den anfänglichen Widerstand des französischen Präsidenten zu brechen, der Albanien keineswegs als EU-Mitglied sehen will, brüllt ZK Anfang September 2019 ins Telefon: „Ta dhifsha suratin!“ Das sei, kalmiert der Erzähler, ein in Albanien gebräuchlicher, oft leichthin gesagter Fluch, den man „vorsichtig mit ‚Ich scheiße in dein Gesicht‘ übersetzen“ könne. Zwischen Ballwürfen und Dribbel-Übungen auf dem Basketballfeld wird schließlich die Idee geboren, ZK solle sich doch zum transnationalen Präsidenten aller Albaner aufschwingen.
Bald geistert die wahnwitzige Idee durch den Roman: Unter Skanderbegs Helm sollen sich symbolisch alle albanischen Volksgruppen des Balkans versammeln, die ethnischen Albaner im Kosovo, in Nordmazedonien, Montenegro, Serbien und in Griechenland, dazu die zahlenmäßig nicht zu vernachlässigenden albanischen Gemeinden in Deutschland, Süditalien und der Türkei. 


Alle Albaner – eine Stimme! Ein Metallhelm, ein Volk, eine Schnapsidee. Die Menasse allerdings mit beträchtlichem Schwung und Witz umkreist und in alle erdenklichen Richtun-gen weitertreibt, dabei die schwergängige Bürokratie hinter der Skanderbeg-Spintisiererei in brillante Unterhaltung konvertiert. Die Europäische Union, die zuweilen den Charme einer Endlosbaustelle verströmt, als fröhlicher Rummelplatz greller Ideen, abwegiger Fantasien und sich überschlagender Fantastereien, gerade so, als würden die Marx Brothers ein eigens gegründetes EU-Ministerium für verwegene Möglichkeiten und kühne Gedankengrenzgänge dirigieren. „Wenn eine Idee verrückt ist, funktioniert sie nicht, aber wenn sie fantastisch ist, kann sie Wirksamkeit entfalten“, notiert Menasse. Mit Skanderbegs Helm, so lässt der Autor einen seiner Helden schwärmen, bettle Albanien nicht mehr um den Beitritt in die Europäische Union. Die Frage sei vielmehr, ob „wir die EU in ein geeignetes Albanien eintreten lassen“. 


Menasse umkreist die große, viel beschriebene Politikidee Europa, ohne sie durch Haha-Ironie zu verraten: So sind sie, die Bürokraten in Brüssel! Er setzt den Roman gehörigen Rotationskräften aus, indem er Ideengeschichte und Intrige, Klamauk, Krimi, Kalendersprüche und Karneval, Thriller und Trash-Lyrik, Liebesgeschichte und Verwechslungskomödie mischt, und das zum großen Vorteil und Gewinn von „Die Erweiterung“. Das Begriffspaar „langweilig“ und „Europäische Union“ ist nach Lektüre dieses von klugen politischen Polemiken durchzogenen Buchs zu streichen. In „Die Erweiterung“ kondensiert einiges über die Gegenwart Europas. Der Roman ist phänotypisch das Gegenstück zu jener Europäischen Union, der so gern alles Schlechte angelastet wird. 


Bevölkert wird „Die Erweiterung“ von gemütvollen Kriminalkommissaren und liebeshungrigen Sachbearbeitern, die an Kalendersprüche glauben. Die Rosenarten „Doktor Kurt Waldheim“ und „Wolfgang Schüssel“ haben ebenso Kurzauftritte wie Hannah Arendt, Bayern München, Rapid Wien, George Soros, Karl May und Mutter Teresa, die Nationalheilige Albaniens. Dazu gesellen sich der Wiener Fotograf Erich Lessing und eine Gastwirtschaft namens „Batzenhäusl“ sowie Wiens ehemaliger Bürgermeister Hermann Neubacher, der laut Menasse die Feuerwehren am Löschen hinderte, als Anfang November 1938 in der sogenannten „Reichskristallnacht“ die Synagogen brannten.  
Was auf den ersten Blick wie ein zusammengewürfeltes Brimborium wirken könnte, summiert sich zu einem prallen 
Roman. Die Europäische Union mag mitunter eine bizarre Veranstaltung sein, aber nie gänzlich und ausschließlich aus Sicht derer, die an die Staatengemeinschaft glauben wie Menasse. Europa, das ist auch immer Streit und Diskussion. Und viel Leidenschaft und Liebe. 


Es finden sich auf den 650 Seiten etliche Längen im Lexikon-Sound und Oberlehrerhaftes über das europäische Rechtssystem und die albanische Folklore, zuweilen kippt der Roman ins Pathetische und Salbungsvolle („Und Edon, der Liebende, begann Donika zu lieben.“). Wie gekonnt Menasse jedoch die fortwährenden Tempo- und Perspektivwechsel zwischen den Minibiografien seiner Figuren und dem Gesamttableau eines EU-Epos in Schwebe und Spannung hält, hallt eine lange Weile nach.   


Gegen Ende des Romans steht die Jungfernfahrt des in Albanien montierten Luxusliners SS Skanderbeg an, ausgerechnet am 28. November, dem Unabhängigkeitstag des Landes. Geladen sind zahllose Würdenträger aus ganz Europa. Als das Schiff den Hafen in Durrës verlässt, stehen die Passagiere winkend an der Reling und werfen Unmengen von Klopapierrollen, sodass diese zu langen Papierschlangen werden. 


Die heitere Kreuzfahrt mit versammelter EU-Prominenz und entlaufener Ziege an Bord der SS Skanderbeg über Meeresuntiefen hinweg mündet schnurstracks im Desaster. Viele Haie an Bord, die Seuche fährt mit. Der Kongress tanzt, hilft ja nix. 

 

 

Robert Menasse: Die Erweiterung. Suhrkamp. 653 S., EUR 28,80

Wolfgang Paterno

Wolfgang Paterno

ist seit 2005 profil-Redakteur.