Cannes

#MeToo? #WhoCares! Cannes startet mit Douglas, Depp und Dreistheit

Zur Eröffnung der 76. Filmfestspiele in Cannes bewegte man sich – ästhetisch wie weltanschaulich – gefährlich nah an reaktionären Positionen.

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Die Eröffnungszeremonie geriet ungeniert sentimental, und sie klang seltsam beschwörend: „Mi sono innamorata di te“, sang die moderierende Schauspielerin Chiara Mastroianni gleich eingangs, nur: Was sollte das in diesem Zusammenhang bedeuten? Verliebt in wen? Ins Publikum, dem sie singend entgegenflüsterte? Ins gute alte Kino, das es in Cannes ab sofort zwölf Tage lang zu feiern gilt? Wenige Minuten später gab die kalifornische Soul-Band Gabriels eine fast schon tränenselige Version des Sixties-Klassikers „Stand By Me“ zum Besten. Auch dies wirkte, als Einstieg in das renommierteste Filmfestivals der Welt, seltsam deplatziert. Mögen wir alle einander beistehen in der Errettung eines Mediums, das uns abhanden zu kommen droht? Nur keine Angst, heißt es in dem Song: Auch im Dunkel der Nacht, im fahlen Licht des Mondes geben wir aufeinander acht?
 

Als Jury-Präsident Ruben Östlund, Regisseur meisterlicher Gesellschaftsanalysen („Play“, „Höhere Gewalt“, „The Square“) und zynischer Komödienspektakel („Triangle of Sadness“), zu Wort kam, sprach er in irritierend neoliberaler Rhetorik nicht von Filmen, sondern von „Content“; und die unvergleichliche Konzentration auf das in einem finsteren Saal an die Leinwand Projizierte nannte er den größten „selling point“ des Kinos. Zwei große Betagte des Kinos bewegten sich danach eifrig beklatscht, aber vorsichtig über die Bühne: Der US-Schauspieler Michael Douglas, 78, nahm eine ehrenhalber verliehene Goldene Palme für sein Lebenswerk entgegen, und seine Kollegin Catherine Deneuve, 79, rezitierte ein Gedicht an die Ukraine, vergaß danach allerdings das Entscheidende: die Filmfestspiele zu eröffnen. Chiara Mastroianni erinnerte ihre Mutter sanft daran, so fand der offizielle Festivalstartschuss, trotz des Sands im Getriebe, doch noch statt.

Der Cannes-Eröffnungsfilm „Jeanne du Barry“

Wie das Kino jedenfalls nicht zu retten sein wird, demonstrierte man gleich anschließend. Der Mantel des Schweigens sei über die freudlosen Details der Inszenierung gebreitet, die aus unerfindlichen Gründen für die Eröffnung des Festivals gewählt wurde: Die Französin Maïwenn, Regisseurin, Co-Autorin, -Produzentin und narzisstische Hauptdarstellerin von „Jeanne du Barry“, versorgte sich da selbst mit der Rolle der gutherzigen historischen Kurtisane, die Mitte des 18. Jahrhunderts an der Seite Ludwigs des XV in Versailles Aufsehen erregte.

Die Cannes-Präsentation erschien wie eine süffisante südfranzösische Absage an Hollywoods Moralismus: Johnny Depp, der in Hollywood seit Jahren schon, angeschlagen von Alkohol, Drogen und den Gewaltvorwürfen seiner Ex-Frau Amber Heard, als kaum noch vermittelbar gilt, wurde als Stargast auf dem roten Teppich vor dem Filmpalast euphorisch begrüßt; er schleppt sich als König Ludwig mimisch-gestisch arg reduziert durch den Film, während Maïwenn sich darin zur proto-feministischen Heldin stilisiert, die sich – wie eine Zeitreisende aus dem 21. Jahrhundert – über das bizarre Hofzeremoniell lustig macht, in einer Erzählung, deren Komödienambitionen ebenso fruchtlos bleiben wie die finalen „dramatischen“ Momente. Maïwenn, die sich vielfach kritisch zu #MeToo geäußert hat, ist gegenwärtig selbst in einen Skandal verwickelt, sie hat einen Journalisten, der über Vergewaltigungsvorwürfe gegen ihren Ex-Mann Luc Besson berichtet hatte, vor einigen Wochen in aller Öffentlichkeit tätlich angegriffen und ihm ins Gesicht gespuckt.
Catherine Deneuves Gesicht ziert übrigens das Plakat des diesjährigen Festivals, das damit auch den Kniefall vor einer Künstlerin vollzieht, die vor fünf Jahren einen Protestbrief unterzeichnete, in dem die #MeTou-Bewegung als „Hexenjagd“ und „Puritanismus“ denunziert und „die Freiheit zu belästigen“ untermauert wurde.

Cannes 2023 hat also begonnen – mit fragwürdigem Spin ins Restaurative.

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.