Vom verlorenen Land

Michael Köhlmeier über Marion Braschs DDR-Roman „Wunderlich fährt nach Norden“

Literatur. Michael Köhlmeier über Marion Braschs DDR-Roman „Wunderlich fährt nach Norden“

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„Wunderlich war der unglücklichste Mensch, den er kannte. Er kannte zwar nicht viele Menschen, doch was spielt das für eine Rolle, wenn das eigene Unglück größer ist als man selbst.“ – Das ist ein klassischer Anfang. Ich hielt inne. Nach drei Zeilen bereits. Ich war gewonnen.

Zum zweiten Mal hat mich Marion Brasch gewonnen.

Ihr erstes Buch, die autobiografische Geschichte „Ab jetzt ist Ruhe“, habe ich mir von ihr selbst vorlesen lassen – ihrer Stimme auf Compact Disc. Ich war beeindruckt von den Widersprüchen. Wie kühl und zugleich herzenswarm sie über ihre Familie sprach, ohne jede besserwisserische Ironie. Und ebenso kühl und herzenswarm erzählte sie die Geschichte ihres Landes, der DDR. Wir sind gewohnt zu glauben, der Blick von unten sei der durchdringendere, der unbestechlichere, der wahre. Und wenn es nicht so ist? Marion Brasch, Jahrgang 1961, wuchs als Kind eines höchst privilegierten SED-Funktionärs in der DDR auf. Ihr Vater rutschte in der Hierarchie der Partei zwar nach unten, als sein Sohn Thomas 1968 nach dem Einmarsch sowjetischer Truppen in Prag Flugblätter verteilte, aber zu einem Blick von unten reichte es nicht. Dass sich die Wahrheit lieber zu den Unterprivilegierten gesellt, ist aufklärerische Sentimentalität – ebenso wie Rilkes Schwärmerei, Armut sei ein großer Glanz von innen. Marion Brasch hat mir in ihrem ersten Buch die DDR erzählt, wie sie mir bis dahin nicht erzählt worden war. Marion Brasch liebte ihre Familie und liebte ihr Land. Ob das Land diese Liebe verdient hat, spielt keine Rolle. Wenn nicht, ist es keine Tragödie – dann ist es eine Tragikomödie, und zu Schönerem ist die Literatur nicht fähig.

„Wunderlich fährt nach Norden“ ist gewiss eine Tragikomödie. Wunderlich liebt Marie. Sie liebt ihn auch, aber eben nicht ganz so sehr wie er sie. Warum wir eine solche Konstellation komisch finden, weiß ich nicht genau; darüber nachgedacht habe ich ja oft. Würde Marie den armen Wunderlich nicht, eben gar nicht lieben – was gäbe es dann zu erzählen? Der Held würde auf Reise gehen, vielleicht. Aber es wäre eine andere Geschichte, mit Marie hätte sie nichts zu tun. Diese Geschichte aber ist durchdrungen von dem tragikomischen Segen, der eben nicht darin besteht, nichts bekommen zu haben, sondern zu wenig. Es ist ein Segen. Hoffnung und Traum sind nicht verloren. Wer sagt, dass Maries Liebe nicht doch noch wachsen kann?
Wunderlich geht auf Reisen, er fährt nach Norden, und Hoffnung und Traum begleiten ihn, und wie wir wissen, sind beide nicht von dieser Welt. Das Telefon brummt in seiner Hosentasche. „Anonym“ spricht mit Wunderlich per SMS. Und „Anonym“ ist auch nicht von dieser Welt. Auf einer knappen Seite gelingt es Marion Brasch, Realität und Illusion ineinander zu flechten, und ich glaube ihr, als hätte ich eben dies immer geglaubt. Sie tut es ohne Anstrengung und ohne Angeberei. Sie kann es, und sie gewinnt mich.

Wunderlich ist vielleicht ein bisschen ein Narr, das ist er gewiss, und er will für seine Kauzigkeit weder Aberglaube noch sein Dasein als Outlaw verantwortlich machen, wie wir es bei seinem fernen Verwandten Huckleberry Finn tun. Er hat beruflich nicht Fuß fassen können, lebt von Gelegenheitsjobs, gibt privat Zeichenunterricht – in Zeiten wie diesen in einer Stadt wie Berlin nicht unbedingt eine randständige Existenz; er ist verschwärmt, aber wir können nicht auf jugendliche Verschwärmtheit plädieren, Wunderlich ist 43 Jahre alt, hat einen 17-jährigen Sohn, um den er sich nicht kümmert. Er ist ein bisschen ein Narr, aber verrückt ist er nicht. Er fährt nach Norden, er möchte das Meer sehen; er fährt durch sein Land. Aber was ist das?

Alles ist wirklich und unwirklich zugleich. Es scheint, als wären die Menschen der ehemaligen DDR der Übernahme durch die BRD ausgewichen und in ihrem eigenen Land ins Exil gegangen, und weil das Land bis in den letzten Winkel hinein mit Wirklichkeit ausgefüllt war, mit der Wirklichkeit der Geschichte, schufen sie sich ein Leben außerhalb – sowohl der Geschichte als auch der Wirklichkeit. Wir treffen auf einzelgängerische Männer und einzelgängerische Frauen; tapfer leben sie gegen irgendetwas an, das nicht ausgesprochen werden kann, aber auch nicht ausgesprochen werden muss; sie scheinen sich untereinander zu kennen – Finke der Motorradfahrer, Toni, die im Wohnwagen haust und über Zauberei Bescheid weiß, als gehöre sie zur täglichen Verrichtung. Oder Lennon Felljacke, der einfach nur da ist, der kein Wort spricht; und doch erzählt er uns den Mythos John Lennon neu und anders, das heißt: Wir tun das, wir erzählen uns, die Autorin gibt lediglich den Anstoß dazu. Sie vertraut auf die Wirkung des Bildes.

„Sie fuhren durch das Dorf, das wie ausgestorben schien, nur hier und da arbeitete jemand im Garten und auf einer Bank vor der kleinen Feldsteinkirche saß der Typ mit dem Fahrrad und der fellbesetzten Jacke. Erst jetzt sah Wunderlich, dass er eine Brille trug – eine, die in ihrer Form der Sonnenbrille hinter Tonis linkem Ohr glich und mit der er ein bisschen aussah wie John Lennon. Er hatte die langen Beine weit von sich gestreckt und las in einem Buch. Als sie vorbeifuhren, hob er kurz den Kopf, winkte ihnen zu und versenkte sich wieder in seine Lektüre.

,Kennst du den?’, fragte Wunderlich.
,Wen?’
,Na den Typen vor der Kirche eben.’
,Hab kein’ gesehn.’
,Aber er hat dir doch zugewinkt.’
,Mir hat keiner zugewinkt. Das wüsstich.’

Seltsam, dachte Wunderlich und drehte sich noch einmal nach dem Lennon-Typ um. Der saß da und las in seinem Buch, als wäre nichts. Na ja, es war ja auch nichts.“

Wer je die Erzählungen über Alice gelesen hat, weiß, dass hinter dem Spiegel tiefere Wahrheiten verborgen liegen als vor dem Spiegel. Marion Brasch führt uns mit leichtem Schritt in ihr Land, das sich mit Begriffen wie „neue ­Bundesländer“ eben nicht beschreiben lässt; dem mit Realismus nicht beizukommen ist. „Wunderlich fährt nach Norden“ ist der Roman nach der Wende. Die Menschen leben in einem Niemandsland. Verlassene, verstoßene, nicht erlöste Kinder.

Der Geist, der die Zeiten nicht nötig hat und deshalb in die Zukunft sehen kann, ohne pathetisches Brimborium und ohne – was noch schlimmer wäre – satirische Hochnäsigkeit, der Geist der Erzählung meldet sich von nun an bis ans Ende der Geschichte immer wieder bei Wunderlich, und immer schickt er seine Prophetien via SMS, warnt ihn, plaudert Geheimnisse von Menschen aus, denen Wunderlich zufällig begegnet, weiß, wann und woran sie sterben werden. Das ist manchmal tragisch, immer aber sehr komisch und ohne eine satirische Absicht, die ja nur Feigheit vor der eigenen Einbildungskraft wäre. Den im Herzen verwundeten Wunderlich, den lieben die Dinge. Wir wissen, es kann auch anders sein. Denken wir an den Herrn Korbes aus Grimms Märchen: Ihn hassen die Dinge, und sie hassen ihn so sehr, dass sie sich mit den Tieren verbünden und ihn am Ende töten. Wir erfahren nie, warum sie das tun. Wir würden ihre Motive ohnehin nicht verstehen. Und warum „Anonym“ den Wunderlich liebt und warum ein aufgelassener Bahnhof die Güte hat, den Zug außerplanmäßig anhalten zu lassen, damit Wunderlich in seine wunderliche Reise starten kann, das verstehen wir nicht, und würde es uns die Autorin erklären, wir wären verstimmt.

„Wunderlich hatte keine Ahnung von Motorrädern, doch das musste er auch nicht, um zu erkennen, dass diese Maschine eine Schönheit war. Schwarzglänzend und lässig stand sie da, als wisse sie um ihre Wirkung, wolle aber daraus keine große Sache machen. Den schimmernden Lenker hatte sie zu ihrem Gefährten, dem Beiwagen geneigt, als befände sie sich mit ihm im vertrauten Zwiegespräch.“

Niemals seien wir der Realität gewisser, als wenn sie eine Illusion ist, sagt Henri Michaux, denn dann sei sie Realität kraft innerer Zustimmung. Dass, was ist, auch anders sein könnte – ist die Quelle aller Kunst. Wieder begegnen wir der DDR. Aber das ist doch ein ganz anderes Land! Und die Zeit der DDR ist längst vorbei, und nicht mit einem Wort spricht uns die Autorin davon. Die DDR ist ein schreckliches Wunderland geworden, die Bewohner sind verletzt, verstreut, verwirrt, sie sind nicht zerbrochen, aber sie sind nicht mehr in die Geschichte eingliederbar. Sie gehen schnell Bier holen und kommen nie mehr wieder. Sie finden das Blauharz, das alle Wunden heilt und vergessen lässt, wie sie geschlagen wurden und wer sie geschlagen hat; aber bei den schlimmsten Wunden verweigern die Verwundeten die Heilung.

Ich habe an den großen kleinen Huckleberry Finn erinnert. Auch er geht auf Reisen, lässt sich auf einem Floß vom Mississippi tragen. Mark Twain hat in dieser Geschichte die Befindlichkeit seiner Zeit geschildert, der Zeit vor dem Amerikanischen Bürgerkrieg. Marion Brasch schildert in ihrem Roman die Befindlichkeit ihres Landes nach dem Ende der DDR. Und sie tut es auf eine Weise, die uns, die wir eine ganz und gar andere Geschichten haben, nicht nur teilhaben lässt, sondern uns unser eigenes Land hinter dem Spiegel zeigt. Und dieses Land ist eine Metapher und als Metapher wiederum ein Spiegel, in dem wir uns indirekt sehen, weil wir dem geraden Blick nicht standhalten könnten.

Marie liebt Wunderlich, aber eben nicht genug. Oder umgekehrt: Wunderlich liebt Marie zu viel. Das ist die Tragikomödie aller Diktaturen, die den Menschen um der Menschlichkeit willen unterdrücken. Wer gar nicht geliebt wird, wie Huckleberry Finn, der kann seinen Tod inszenieren und neu anfangen. Die zu viel oder zu wenig Geliebten kommen nicht los, erst recht nicht, wenn alles zerbrochen ist; sie sind Wiedergänger in der Geschichte. Die gerade richtig geliebt werden, nicht zu wenig, nicht zu viel, die … gibt es die?

Michael Köhlmeier, 64, zählt zu den renommiertesten Erzählern des deutschsprachigen Raums. Soeben ist sein neuer Roman „Zwei Herren am Strand“ (Hanser) erschienen, in dem in einer fiktiven Begegnung Winston Churchill auf das Komik-Genie Charlie Chaplin trifft.