Interview
Bestsellerautor Michael Köhlmeier: „Herbert Kickl ist ein ängstlich bellender Untertan“
Ein profil-Gespräch über gute Blasmusik und politischen Analphabetismus.
Von Wolfgang Paterno
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Herr Köhlmeier, unlängst ließ die ÖVP in den sozialen Netzwerken verlauten: "Wer unsere Art zu leben ablehnt, muss gehen." Sind Sie bereits am Kofferpacken?
Köhlmeier
In diesem Satz lässt sich fast jedes Wort hinterfragen. "Wer" impliziert eine Frage, die keine ist: In Wahrheit richtet sich diese Kampagne gegen muslimische Zuwanderer. Bereits dieses "Wer" markiert also eine Lüge, weil alle wissen, wer damit gemeint ist. Nein, ich packe keine Koffer. Vor so viel Torheit und Unverfrorenheit kapituliere ich nicht.
Eine weitere ÖVP-Parole lautete: "Tradition statt Multikulti". Im Bild dazu war eine Maibaumfeier zu sehen.
Köhlmeier
Mein ganzes Leben habe ich in Vorarlberg keinen Maibaum gesehen. Ich kann mich auch nicht erinnern, dass ein Großteil der alteingesessenen Bevölkerung mit Lederhosen herumgegangen wäre. Ich liebe gute Blasmusik, wie ich alle gute Musik liebe, stamme sie aus Amerika, aus Irland, aus dem arabischen Raum, aus der Türkei, alle Musik gehört allen Menschen auf der Welt. Aber wenn einer Blasmusik nicht leiden kann, soll ich ihn deshalb davonjagen? Das Wiener Schnitzel übrigens verdanken wir der sogenannten Multikulti, das ist bekanntlich eine kulturelle Aneignung aus Italien. Wie gesagt: Diese ÖVP-Aktion ist propagandistisch verlogen und obendrein tölpelhaft.
Dürfen wir überhaupt nicht darüber diskutieren, was unsere Art ist?
Köhlmeier
Natürlich. Hier aber ist in Wahrheit nicht gemeint, was wir sind, sondern was die anderen nicht sind. Das ist ein Unterschied. Ein Unterschied, unter dem "die anderen" zu leiden haben sollen. Diese Absicht soll deutlich durchschimmern. Seht her, wir können genauso hetzen wie die FPÖ! Ha, vielleicht sogar noch besser!
"Die selbsternannte Heimatpartei FPÖ wird wegen der im Raum stehenden Spionagetätigkeiten für Russland gewaltig in die Bredouille kommen."
Ist es peinlich oder fast schon rührend, dass die ÖVP auf einem Werbe-Sujet mit dem Thema Blasmusik ihre Klientel in Vorwahlkampfzeiten einzufangen versucht?
Köhlmeier
Peinlichkeit und Rührung. Eine fatale Mischung, Sie sagen es. Tradition statt Multikulti. Die ÖVP hat den Spruch von der AfD-und ihn bereits zurückgezogen, peinlich berührt. Mir hat bis dato niemand in klar umrissenen Sätzen sagen können, was unsere Art sei. Die ÖVP spricht von Leitkultur. Seit Jahrzehnten sitzt sie in der Regierung. Dass die "österreichische Kulturnation" nicht einmal ein eigenes Kulturministerium hat, hat sie offensichtlich nicht gestört. Ach, wie gesagt, die ÖVP hechelt der FPÖ nach. Wie der Hase hinter dem Igel.
Die Fabel vom Hasen und dem Igel geht nur gut aus, weil der Igel betrügt.
Köhlmeier
Es gibt in dieser Fabel bekanntlich zwei Igel, wobei der Dumme der Hase ist, der das nicht merkt. Die Igel sind die FPÖ. Der Hase sind die ÖVP und jene Menschen, denen es noch immer schwerfällt, populistisches Benehmen zu durchschauen.
Was will die ÖVP?
Köhlmeier
In Vorarlberg gibt es das Sprichwort: "Jemand ist gschieder wie Salomons Katz." Das besagt, er ist vor lauter Gescheitheit dumm. Die ÖVP übertölpelt sich vor lauter Schlauheit selbst. Ich sehe die Parteigranden vor mir, wie sie zusammensitzen und überlegen: "Wir haben eine Superidee! Wir veranstalten eine Wertediskussion, auf die alle eingehen werden. Und dann sagen wir, die ÖVP ist die einzige Bewahrerin unserer Werte!" Kein zweiter Gedanke. Raus mit dem Slogan. Mitten hinein in die Peinlichkeit. Ein Wert für diese Funktionäre besteht unter anderem wohl darin, nichts Anstößiges daran zu finden, wenn man wie in Niederösterreich mit einer Partei in Koalition geht, deren Vorsitzender nichts Anstößiges daran findet, lauthals zu singen, dass die Germanen, wenn sie sich nur gehörig anstrengen, die "siebte Million" schaffen-gemeint sind ermordete Juden.
Womit wir beim Begriff der "Leitkultur" wären, der, angestoßen von den Christlich-Sozialen, seit geraumer Zeit herumgeistert.
Köhlmeier
"Leitkultur" setzt sich aus zwei Wörtern zusammen, die nicht zueinanderpassen wollen. Wenn uns etwas leitet, sagt uns das, was wir tun sollen-in Verbindung mit "Kultur" ergibt das wenig Sinn. Ist es wirklich die Aufgabe der Kultur, uns irgendwohin zu leiten? Haben Kunst, Literatur und Musik die Aufgabe, uns zu besseren Menschen zu machen? Oder uns eine Identität zu geben? Schön wär's. Mozart und Sigmund Freud adeln uns doch nicht bloß als Österreicherinnen und Österreicher, sondern als Menschen, als Weltbürger. An der Existenz eines Mozart dürfen sich auch ein Bauer aus Feuerland und eine Haitianerin erfreuen. Alle dürfen sagen: Der gehört uns.
Was also ist "Leitkultur"?
Köhlmeier
Wenn man versucht, einen unsinnigen Begriff zu definieren, wird er dadurch nicht sinnvoller. Selbst Bassam Tibi, jener syrisch-deutsche Sozialwissenschafter, von dem der Begriff ursprünglich stammt, hat das Wort meines Erachtens nicht richtig durchdacht. Ich halte es da lieber mit Kant: Ich habe meinen eigenen Kopf, dem ich in erster Linie vertraue, mit dem ich erst einmal selber ausmache, was unter "Leitkultur" zu verstehen sein könnte. Der Hinweis auf eine Koryphäe ersetzt nicht das eigene Nachdenken.
Was verstehen Sie also darunter?
Köhlmeier
Was uns als Gesellschaft leiten soll, ist all das, was in unserer "eleganten" Verfassung und in unseren Gesetzen niedergeschrieben ist. Das ist ja trivial: Mord gehört ebenso wenig zu unserer Kultur wie Zwangsverheiratung. Ebenso wie die Trennung von Religion und Politik. Muss man extra darauf hinweisen? Ist unsere Verfassung so schwach, dass wir tatsächlich noch eine Aufzählung vom Maibaum über die Blasmusik bis zum Wiener Schnitzel benötigen? Man tut gerade so, als lebten wir zu Zeiten Homers, als es noch kein Bürgerliches Gesetzbuch gab. Das ist politischer Analphabetismus.
Von Michael Häupl, dem ehemaligen Wiener Bürgermeister, ist der Satz überliefert, Wahlkampfzeiten seien Phasen "fokussierter Unintelligenz". Immerhin befinden wir uns in einem sogenannten "Superwahljahr".
Köhlmeier
Beim Wiener Parteitag der FPÖ hat Kickl hauptsächlich über Corona geredet. Um alte Ressentiments hochzukochen. Das macht die Partei, um von einem viel größeren Komplex abzulenken. Die selbst ernannte Heimatpartei FPÖ wird wegen der im Raum stehenden Spionagetätigkeiten für Russland gewaltig in die Bredouille kommen. Wir sprechen hier über handfeste Strafbestände, nicht mehr über ein Vorspiel namens Ibiza mit alkoholschwangeren Prahlereien, halb Österreich an irgendwelche Oligarchennichten zu verhökern. Hier steht Hochverrat zur Debatte. Wollen wir einen Kanzler, dessen Partei einen Freundschaftsvertrag mit einem Tyrannen wie Putin abgeschlossen hat?
Zwei profil-Kollegen veröffentlichten kürzlich die erste Biografie über Herbert Kickl, in der sie den Politiker als "asketischen Ideologen", "Volkstribun" und "brandgefährlichen Politiker" bezeichnen, der Europa zerstören will. Trifft sich das mit Ihrer eigenen Einschätzung?
Köhlmeier
Es wäre eine Analyse wert, weshalb gerade Europa für manche Menschen so ein Feindbild ist. Jeder, der ein bisschen von Geschichte versteht, muss zustimmen, dass die EU das größte Friedensprojekt aller Zeiten ist. Kickl will wie Viktor Orbán und Wladimir Putin Europa zerstören. Ich bitte jeden, darüber nachzudenken, warum.
2014 war auf den Europawahlplakaten der FPÖ zu lesen: "Österreich denkt um-zu viel EU ist dumm". 2024 fordert EU-Spitzenkandidat Harald Vilimsky einen blauen EU-Kommissar für "Remigration".
Köhlmeier
Remigration heißt Vertreibung, da braucht man sich nichts vorzumachen. Aber stellen wir uns vor, Österreich träte aus der EU aus: Wir hätten wieder den Schilling, die Grenzen wären dicht, wir wären die Paria des Kontinents. Wir hätten zum Schaden noch den Spott. Binnen weniger Jahre wäre Österreich weit unten. Und dann der Katzenjammer. Schauen wir zurück in die Zeiten, als die FPÖ in der Regierung saß: Sie können es nicht. So lautet das Fazit. Der Trost ist: Sie können nicht einmal den Unsinn, den sie wollen.
Schließt das Herbert Kickl mit ein?
Köhlmeier
Er hat Jörg Haider und Heinz-Christian Strache, den beiden ehemaligen FPÖ-Chefs, eine gewisse kompromisslose Verbissenheit voraus. Wüsste ich absolut nichts über Kickl und müsste ihn allein aufgrund einer Bildergalerie charakterisieren, sähe ich einen äußerst ängstlichen Mann mit weit aufgerissenen Äuglein. Es kommt gar nicht darauf an, was, sondern dass entschieden wird. Das ist, unter dem Blickwinkel der Propaganda gesehen, sehr geschickt. Kickl vermittelt den Eindruck, ohne Wenn und Aber zu entscheiden. Das ist aber auch demokratisch grenzwertig. Demokratie zaudert. Demokratie wägt ab. Das muss sie, weil viele daran beteiligt sind. Einem populistischen Politiker kommt es darauf an, den Eindruck zu vermitteln, er werde auf jeden Fall entscheiden. Was auch immer. Das ist Panik. Und die gründet in Ängstlichkeit. Das sehe ich in Kickls Gesicht.
Fehlt Ihnen Sebastian Kurz als politische Reizfigur?
Köhlmeier
Um Himmels willen, nein! Ich bin Kurz dreimal persönlich begegnet. Auf eine Entfernung von 200 Metern mit schlaftrunkenen Augen habe ich ihm seine Bluffs angesehen.
War der 2008 verstorbene Jörg Haider ebenfalls ein Bauernfänger?
Köhlmeier
Ja, aber anders. Haider hatte etwas Unbezahlbares, nämlich einen gewissen Charme. Der ehemalige FPÖ-Obmann Heinz-Christian Strache war ein Strizzi, ein Bandenführer, ein Liliom. Ein lustiger Kerl auch. In der Politik nicht gut, gar nicht gut.
Wenn Strache Liliom ist, wer wäre dann Kickl?
Köhlmeier
Dem Kickl sind immer wieder seine Anführer weggebrochen. Er ist der Mann für die zweite Reihe, der die schlauen und oberschlauen Pläne und Reime schmiedet. Unter Haider war er der Gedemütigte. Mit der Rolle des ersten Mannes in der Partei ist Kickl überfordert. Er spielt den Herrn.
Inwiefern?
Köhlmeier
Er ist keine charismatische Galionsfigur, wie Haider eine war, auch nicht der ulkige Kumpan wie Strache. Kickl als Kanzler gäbe eine lächerliche Figur ab. Kickl ist ein ängstlich bellender Untertan. Untertanen bellen aus Angst. Wer ihnen zu nahe kommt, den beißen sie.
Kürzlich feierte die SPÖ ihren 150. Geburtstag. "Wir sind wieder da, wir sind spürbar", jubelte Bundesparteivorsitzender Andreas Babler.
Köhlmeier
Eine so ehrwürdige Partei wie die SPÖ soll jetzt wieder "spürbar" sein? Das heißt: Allmählich registrieren die Menschen, dass es uns gibt. Ist das gemeint? Das wäre unglaublich traurig.
Sie sind bekennender Sozialdemokrat. Flüchten Sie oft sentimentalistisch in die goldenen Zeiten von Bruno Kreisky und Franz Vranitzky?
Köhlmeier
Unter Kreisky und Vranitzky war tatsächlich einiges besser. Vranitzky war der vornehmste Politiker, den Österreich je hatte. Was ist demokratische Politik? Den Haushalt gut führen. Man muss nicht jedes Mal in die Posaunen blasen, wenn der Müll hinuntergetragen werden soll. Vranitzky hat mit Sachlichkeit und ohne großes Pathos regiert. Und mit klaren Ansagen. Kein peinliches Herumgerede bei Interviews: "Herr Bundeskanzler, führen Sie die Koalition mit der FPÖ unter Jörg Haider fort?"-"Nein."
"Ich liebe gute Blasmusik, wie ich alle gute Musik liebe."
Sie werden heuer 75. Hat sich Ihre jahrzehntelange Beschäftigung mit Politik ausgezahlt?
Köhlmeier
Die Teilnahme und das Teilhaben an dem, was in unserem Land, auf unserem Kontinent, auf der Welt stattfand und heute vor sich geht, ließ mich Lebendigkeit verspüren. Wenn mich das nicht mehr interessieren würde, dann würde ich mich nicht unter den Lebenden fühlen. Ein Ansporn war immer die Geschichte des 20. Jahrhunderts, diese Zeit der Extreme.
Schließt diese Art von Lebendigkeit Ihr Leben und Arbeiten in Ihrer Heimatstadt mit ein?
Köhlmeier
Die Geschichte des 20. Jahrhunderts geht an keinem Dorf der Welt vorbei. Ich erinnere mich an Diskussionen als Student in Hohenems, als es bei Gesprächen über den Holocaust noch hieß: "Also Entschuldigung, von denen sind immer noch genügend da!"Man steht mit der größten Katastrophe der Weltgeschichte immer Aug in Aug. Man hat auch in Hohenems gewusst, dass man am Allgemeinen teilhat. Es gibt nicht das halbe Allgemeine-und erst recht nicht das Siebzehntel-Allgemeine. Das 20. Jahrhundert hat dafür gesorgt, dass dieses Allgemeine die ganze Welt umfasst.
Vom Dichter Heinrich Heine, der 1856 starb, stammt die Bemerkung: "Unsere Nachkommen werden schöner und glücklicher sein als wir." Einverstanden?
Köhlmeier
Auf jeden Fall. Schöner sind sie allein schon deshalb, weil die Zahnmedizin enorme Fortschritte gemacht hat. Beim Glück bin ich mir nicht so sicher. Nennen wir es lieber Zufriedenheit, und beschränken wir diese auf Momente. Meine Mutter hat immer gesagt, sie sei direkt nach dem Krieg am glücklichsten gewesen, als sie in München, einer zerstörten Stadt, am Abend mit einer Freundin auf den Mauerruinen balancierte.
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Wolfgang Paterno
ist seit 2005 profil-Redakteur.