"Unterwerfung": Kann man Michel Houellebecq noch literarisch lesen?
Es ist ein gespenstisches Déjà-vu. In Paris jagen maskierte Männer mit Sturmgewehren umher, Ladenfenster gehen zu Bruch, Autos brennen. Grobkörnige Amateuraufnahmen der Ereignisse sind im Fernsehen zu sehen. Der Lärm von Schießereien ist zu hören, Explosionen hallen, Rauchsäulen steigen in den Himmel über den Häusern. In den Straßen patrouillieren Beamte der Sonderpolizei in Schutzwesten, Maschinenpistolen quer über der Brust. Wer Michel Houellebecqs neuen Roman "Unterwerfung“ weiter liest, kommt auch zu der Szene, in welcher der Protagonist François auf der Flucht vor der eskalierenden Gewalt an einer Autobahntankstelle außerhalb der Metropole Halt macht. "Der Parkplatz war menschenleer, und ich bemerkte sofort, dass irgendetwas faul war. Ich bremste den Wagen abrupt ab und fuhr sehr vorsichtig zur Tankstelle vor. Das Ladenfenster war zersprungen, abertausende Glassplitter lagen auf dem Asphalt.“
Literatur kann übertreiben und aufrütteln. Man kann die Macht der Literatur aber auch maßlos überschätzen.
Spätestens an dieser Stelle schiebt sich das reale Schreckensbild von den Brüdern Kouachi über die Zeilen des Romans: Auch die beiden Dschihadisten überfielen nach dem Massaker in der Redaktion der Satirezeitung "Charlie Hebdo“ eine Tankstelle im Umland der französischen Hauptstadt. François setzt im Roman seine Fahrt anschließend fort - in der "Vorahnung einer unmittelbar bevorstehenden Katastrophe“.
Literatur kann übertreiben und aufrütteln. Man kann die Macht der Literatur aber auch maßlos überschätzen.
Schauerliche Koinzidenz
Am 7. Januar erschüttert eine islamistische Attacke im Herzen von Paris die Welt. 17 Menschen sterben, darunter vier der bekanntesten Zeichner Frankreichs, die in der "Charlie“-Redaktion von den Kouachi-Brüdern regelrecht hingerichtet werden. In schauerlicher Koinzidenz - sowohl was Inhalt und Termin betrifft - erscheint "Unterwerfung“ im französischen Original am Tag des Attentats: In seinem Roman spielt Houellebecq das Szenario eines Frankreichs anno 2022 unter einem muslimischen Präsidenten durch. Auf dem Cover der gerade aktuellen "Charlie“-Ausgabe ist ein Porträt des Autors zu sehen, eine Karikatur, die Houellebecq als Literaturkräuterweiblein mit alberner Kopfbedeckung zeigt, dazu die Prophezeiung: "2015 verlier’ ich alle meine Zähne, 2022 feiere ich Ramadan.“
Seit dem Tag der Pariser Morde sieht sich Houellebecq mit monströsen Vorwürfen konfrontiert, ausgesprochenen und unausgesprochenen. In den bislang so gut wie jede Publikation Houellebecqs flankierenden Der-Autor-als-Agent-provocateur-Diskurs reihen sich neue Stimmen: Der Schriftsteller schüre die Ängste vor dem Islam und der Einwanderung, er verharmlose die politische Rechte und spekuliere leichtfertig mit der Möglichkeit eines Bürgerkriegs zwischen islamischen Immigranten und alteingesessener Bevölkerung. Houellebecq, die Pythia mit wächserner Haut und dauerboshafter Laune, habe in das durch Wirtschaftskrise und steigende Arbeitslosigkeit ohnehin eingetrübte Land einen dämonischen Schimmer gebracht.
Wie bitte? Die Literatur nimmt neuerdings die Realität vorweg?
Seit den Kalaschnikow-Salven ist der Roman "Unterwerfung“ viel mehr als nur ein Roman. Das dicht geknüpfte Prosanetz von literaturhistorischen Verweisen, falschen Fährten und paranoischer Ich-Inszenierung Houllebecqs in der Person seines Antihelden François, eines kreuzunglücklichen Universitätsprofessors mit Faible für Erotikeskapaden und mächtiger Tendenz zum Nihilismus, soll plötzlich probates Hilfsmittel für die Spurensuche nach den Ursprüngen des politischen, mit Waffengewalt exekutierten Extremismus sein. "Ist er schuld?“, fragte irritiert die "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“. Der französische Premierminister erklärte: "Frankreich, das ist nicht die Unterwerfung, Frankreich ist nicht Houellebecq.“ Der Autor habe, so war am Scheitelpunkt der kollektiven Hysterie zu lesen, einen "Antizipationsroman“ geschrieben. Wie bitte? Die Literatur nimmt neuerdings die Realität vorweg? Der Autor wiederum entgegnet genervt: "Jetzt wird es noch schwerer, weil ich dauernd zwei Dinge wiederholen muss: Erstens ist das Buch nicht islamophob. Und zweitens hat jeder das Recht, ein islamophobes Buch zu schreiben, wenn er will.“
Wofür die Literatur alles herhalten muss. Sartre und Camus, in Frankreich die klassischen Vertreter des engagierten Schreibens, erprobten das schwierige Spannungsverhältnis zwischen Literatur und Wirklichkeit. In "Unterwerfung“ findet es seine bizarre Zuspitzung. Was ohne die Anschläge von Paris als Politiksatire durchgegangen wäre, mutierte über Nacht zur hochtoxischen Quelle von Gewaltanstiftung und Hassgefühlen.
Man kann Houellebecq, 56, leicht auf den Leim gehen. Der Autor inszeniert sich gern als einzelgängerischer Wolf, der im Gewand des literarischen Provokateurs auf aktuelle gesellschaftspolitische Phänomene und Entwicklungen reagiert. Die Literaturzeitschrift, bei der Houellebecq nach Erscheinen seines zweiten Romans "Elementarteilchen“ (1998) angestellt war, kündigte dem Autor unter dem Vorwurf, er verfechte faschistische Ideen. Die Sextourismus-Eloge "Plattform“ (2002) wurde als religionsfeindlich kritisiert, der Klon-Roman "Möglichkeit einer Insel“ (2005) als Orwell’sche Groschenheftliteratur abgekanzelt.
Prosa-Gollum auf Höhepunkt des Schreibens
Für die begleitenden PR-Maßnahmen zur Veröffentlichung von "Unterwerfung“ tauchte Houellebecq aus der seit Jahren freiwillig gewählten Isolation auf - und präsentierte sich als Prosa-Gollum mit leerem Blick und strohigem Haar, als ein dünner Mann mit fahler Gesichtsfarbe, der nach wenigen Metern nach Luft schnappte. Es wirkte wie ein Signal: Mit mir ist nicht mehr zu rechnen. Als Autor ist Houellebecq indes auf dem Höhepunkt seines Schreibens angelangt.
"Unterwerfung“ ist ein Buch der vielen Fallen. Houellebecq zeigt darin Politkaiser und selbst ernannte Oppositionsprinzessinnen, alle ohne Kleider. Er zeichnet die Borniertheit und Marionettenhaftigkeit junger Dschihadisten nach. Er imaginiert ein Frankreich - quel scandale! -, das unter dem muslimischen Regierungschef Mohammed Ben Abbes prosperiert. Die Kriminalität sinkt, der Arbeitsmarkt boomt, die Immobilienwirtschaft floriert. Damit sich die Franzosen des Jahres 2022 aber nicht ganz im Elysium wähnen, verbietet Ben Abbes den Frauen, einer geregelten Arbeit nachzugehen. Die Männer unterwerfen sich Gott, die Frauen ihren Männern, wobei die Scharia diesen bis zu vier Ehefrauen gestattet. Kleider und Röcke verschwinden aus dem Stadtbild, Dschellaba, Kufija und Burka dominieren.
Die Hauptfigur François zurrt mit ihrer intellektuellen Unbedarftheit den Roman dramaturgisch fest. François ist ein Virtuose des Wegschauens: "Ich war politisiert wie ein Handtuch.“ Über seinen Kopf hinweg kann Houellebecq, in erzählendem wie ironisierendem Ton, den politischen Islam ebenso verhandeln wie den grassierenden Rechtsextremismus und die drohenden Amokläufe verblendeter Gotteskrieger. Seht her, scheint Houellebecq sagen zu wollen: Ich registriere nur, ich werte nicht. Ich berichte fernab jeder Moral, bin nur Chronist der Zeit. Ich halte euch den Spiegel vor Augen und Nasen.
"Unterwerfung“ mündet konsequenterweise in eine konjunktivische Erzählung. François, dem zuvor jeder Gedanke an die Existenz Gottes bloße Verschwendung intellektueller Kapazität war, erhofft sich durch den Islam Rettung - die Möglichkeit des Unmöglichen: "Dann würde ich mit ruhiger Stimme die folgende Formel sprechen, die ich phonetisch auswendig gelernt hätte:, Ashhadu alla ilaha illallah wa ashhadu anna Muhammadar rasulullah.‘ Was übersetzt bedeutet:, Es gibt keinen Gott außer Gott, und Mohammed ist sein Gesandter.‘ Und das wäre schon alles; fortan wäre ich ein Muslim.“
Kürzlich bemerkte Michel Houellebecq, dass er sich vorstellen könne, über die Pariser Attentäter zu schreiben. "Zumindest würde ich besser über sie schreiben als die Journalisten, die sie zu Dämonen erklären.“ Der Autor wird weiter Minenfelder pflügen.
Michel Houellebecq: Unterwerfung. Aus dem Französischen von Norma Cassau und Bernd Wilczek. Dumont, 271 S., EUR 23,70