Wiener Festwochen: Wien und die Welt
Am Ende erledigte sich die Causa prima schon fast unwienerisch. Das Verhaltensoriginellste spielt sich in der selbst ernannten Theaterweltstadt bekanntermaßen gern im (medialen) Vorfeld der Bekanntgabe von Neubesetzungen renommierter Kulturintendanzen ab. Das Magazin „News“ kampagnisierte beispielsweise im Verbund mit der Tageszeitung „Kurier“ anlässlich der anstehenden Kür der neuen Intendanz der Wiener Festwochen gegen den Berliner Theatermacher Matthias Lilienthal, der beiden Medien als längst ausgemachter Nachfolgekandidat für den eher glücklos agierenden Christophe Slagmuylder galt.
Gekommen ist es anders – und auch noch fernab der habituellen wienerischen Wer-wird’s-wohl-werden-Eskalationsstufen. Vergangenen Freitag, kurz nach neun Uhr Vormittag, gab Wiens Kulturstadträtin Veronica Kaup-Hasler bekannt, dass der Schweizer Theatermacher und Filmregisseur Milo Rau, 46, die Wiener Festwochen ab Juli 2023 als Intendant leiten wird. Bis eine halbe Stunde vor Bekanntgabe wusste selbst Kaup-Haslers näheres Umfeld nicht, wer Slagmuylder nachfolgen wird, der die diesjährigen Festwochen noch künstlerisch verantwortet; die Festivalausgabe 2024 soll bereits die Handschrift von Rau tragen, der seit 2018 künstlerischer Leiter des belgischen NTGent Stadttheaters ist und dessen Werkliste seit 2002 mehr als 50 Theaterstücke, Filme, Bücher und Aktionen aufweist; mehrere von Raus Arbeiten wurden in der Vergangenheit bereits bei den Wiener Festwochen präsentiert.
Bei seiner Vorstellung im Wiener Rathaus wählte Rau am Freitag vergangener Woche einen Weg zwischen hübscher Selbstironie und trockener Programmatik. Wohlmeinende Menschen aus Wien, erklärte Rau mit Blick auf seine Mitbringsel, hätten ihm ein Buch über Karl Kraus und den Folianten „Österreich – 99 Dokumente, Briefe und Urkunden“ zum Amtsantritt geschenkt, dazu eine Sachertorte. „Den flämischen Kanon kann man an einem Nachmittag lesen“, kommentierte Rau schelmisch: „Mit dem Wiener Kanon kommt man ein ganzes Leben nicht zurande.“ Und weiter: „Ich kenne keine andere Stadt, die so fürs Theater brennt wie Wien. Ich kann es kaum erwarten, an die große Tradition der Wiener Festwochen anzuknüpfen und ein mythisches, gewaltiges, umstrittenes Theaterfest zu schaffen. Es sollen Festwochen gemeinsam mit allen und für alle werden: ein vielstimmiges, formal diverses, leidenschaftliches und kämpferisches Welttheater. Ein Fest für Wien und die Welt.“ Detaillierter ließ sich Rau nicht in die Karten blicken, nur so viel: Für seine erste Saison sei eine Zusammenarbeit mit dem – tatsächlich nicht
unumstrittenen – russischen Regisseur Kirill Serebrennikow geplant, der unlängst nach Berlin floh.
Für Wien strebt Rau ein Crossover von „Profis des Intimen“ mit „großem Schauspieltheater“ an, wobei man sich stets fragen müsse, was „internationale, supergroße Produktionen“ mit Wien zu tun hätten: „Die großen Mythen müssen in konkrete Kontexte eingepasst werden.“
Bei seinem Amtsantritt 2018 in Belgien rief Rau gemeinsam mit dem NTGent-Leitungsteam das „Genter Manifest“ aus. Leitsätze daraus: „Es geht nicht mehr nur darum, die Welt darzustellen. Es geht darum, sie zu verändern.“ Oder: „Die wörtliche Adaption von Klassikern auf der Bühne ist verboten.“ Als „pragmatischer, politischer Mensch“, so Rau im Wiener Rathaus, wolle er natürlich auch ein „Wiener Manifest“ erarbeiten: „Nicht nur theoretisch, sondern als Grundlage für 10.000 Debatten.“