Das Buch, das Sie gemeinsam produziert haben, begann mit Lockdown-Fotos, die Sie, Herr Marclay, im Frühjahr und Sommer 2020 in London gemacht haben: Es sind sehr strukturierte Bilder, auf Linien und Punkte konzentriert, die eine Art Musikalität assoziieren lassen. Haben Sie sich auf die Suche nach Motiven gemacht, die mit Partituren verknüpft sind?
Marclay
Nein, ich hatte zunächst keinen Plan. Das erste Foto nahm ich bei einem Spaziergang in London auf. Ich glaube, es war die erste Woche, in der wir alle zu Hause bleiben sollten. Ich ging in ein Viertel, in dem ich nie gewesen war, und sah diese Zäune vor einer Wohnanlage. Mir fiel auf, dass sie schwarz lackiert waren und weißen Kugeln hatten. Ich dachte sofort an Noten. Ich machte ein Bild und schickte es an Steve, fragte ihn, wie dieses Foto auf dem Klavier klingen würde.
Ein klingendes Foto?
Marclay
Die Linien auf dem Bild waren vertikal, aber die Hinweise auf Notenschrift waren da. Steve antwortete mit einer wunderschönen Musikaufnahme, die er mit seinem Handy gemacht hatte. Es war spontan, ohne große Ideen dahinter. Ich dachte auch, wir belassen es bei diesem einen Bild. Aber dann fand ich es zu interessant, um es sein zu lassen, und ich wollte auch Steve beschäftigen, weil ich wusste, dass er sich in seiner Wohnung isoliert hatte. Also begann ich, nach „musikalischen“ Bildern zu suchen. Ich schickte jedes, das entstanden war, an Steve weiter, in der Hoffnung, dass darin vielleicht Musik versteckt sei.
Als Sie ihm Ihr erstes Foto geschickt hatten, bekamen Sie sofort eine Antwort?
Marclay
Ja, er kündigte an, mir ein kleines Musikstück zu schicken, das auf diesem Bild basiert. Und dann erhielt ich für jedes Foto, das ich ihm schickte, eine dieser Aufnahmen, und sie klangen alle sehr schön und traurig. Sie spiegelten die Stimmung wider, die wir im Lockdown durchlebten.
Wie komponierten Sie diese Stücke, Herr Beresford? Geleitet von direkten visuellen Assoziationen? Oder nahmen Sie jedes Foto als eine Art Trampolin, um in Ihre musikalischen Fantasien zu springen?
Beresford
Auf dem Trampolin sprang ich tatsächlich wenig herum. Einige der Fotos erinnerten von fern an westliche Musiknotation. Mir fielen Erik Saties Partituren für seinen Klavierzyklus „Sports et divertissement“ von 1914 ein, die sogar Zeichnungen enthalten. Die Musik, die Satie schrieb, war auch wunderschön anzusehen. Aber einige von Christians Fotos ließen nicht wirklich Hinweise auf eine Partitur erkennen. Ein Bild von acht Ziegeln auf einem Gitter beantwortete ich eben mit einer Phrase aus acht Noten – mit etwas wirklich Offensichtlichem. Es sollte nichts Tiefgründiges oder Bedeutsames sein. Aber meine Stücke tragen eine Art Traurigkeit in sich, die mit dem zu tun hat, was zu dieser Zeit in der Welt vor sich ging. Wie die Originalfotos. Sie sind sehr stark.
Ihre Reaktion auf Marclays Bilder waren also Aufnahmen auf Ihrem iPhone. Sie setzten sich ans Klavier, um sie zu komponieren?
Beresford
Nein, ich habe ein Casio SK-1 verwendet, ein billiges Kinder-Keyboard aus den 1980er-Jahren. Sie können darauf einen Sound speichern, indem Sie „Go“ und „Sample“ drücken, dann ein Geräusch erzeugen. Fünf Sekunden später haben Sie den Sound auf der Tastatur. Das ist die Art von Technologie, die ich mag. Die Körnigkeit des Casio-Klangs ist interessant. Und ich glaube, ich habe irgendwo auch ein Spielzeugklavier benutzt.
Marclay
Hast du. Diese Spontaneität war großartig. Man konnte hören, wie Steve das Telefon einschaltete, sein Stuhl quietschte, dann fing er an zu spielen. Ein Auftritt ohne Publikum. Wir waren nur zu zweit.
Beresford
Irgendwo kann man sogar hören, wie Leute an meine Haustür klopfen, oder? Und etwas Verkehrslärm gab’s auch.
Freie Improvisation ist Ihre Domäne. Proben wären in diesem Feld paradox?
Beresford
Für mich auf jeden Fall. In den 1970er Jahren arbeitete ich mit dem US-Gitarristen Eugene Chadbourne. Er sagte mir, es gebe da diesen Jazztrompeter, Toshinori Kondō, er sei großartig. Eugene schlug vor, eine Tournee durch England zu machen! Und irgendwie stellte ich diese Tour für uns drei zusammen. Ich hatte Kondō nie getroffen, hatte keine Ahnung, wie er klang, aber ich glaubte an das Projekt, denn Eugene hätte nie etwas vorgeschlagen, das keine gute Idee gewesen wäre. Wir kannten uns kaum – und machten eine ganze Tour! Ich nehme das gern als Beispiel dafür, worum es bei improvisierter Musik geht: Menschen aus verschiedenen Orten kommen mit Instrumenten zusammen und spielen einfach miteinander. Für mich ist das perfekt. Der Prozess, einen Musiker kennenzulernen, ist für mich Teil jener Stücke, die ich mit ihm spiele.
Also werden Sie in Wien gegen 22 Uhr einfach vorbeikommen, sich auf die Bühne setzen und spielen?
Beresford
Nun, ich bin zwanghaft früh dran. Ich werde versuchen, nicht zu spät zu kommen.
Marclay
Es wird wohl wenigstens einen Soundcheck geben, hoffe ich?
Beresford
Du brauchst keinen Soundcheck, wenn du ein Klavier in einem guten Raum spielen willst und es nicht extra verstärkt werden muss.
Sie sind Multiinstrumentalist. Werden Sie in Wien nur Klavier spielen?
Beresford
Vielleicht bringe ich eine Melodica mit. Ich bin auch ein sehr fauler Musiker, es macht mir keinen Spaß, schwere Instrumente durch die Welt zu schleppen.
Herr Marclay, Sie arbeiten oft mit gefundenen Objekten, Bildern oder Filmmaterial. Sie nutzen Bestehendes, eignen es sich an. Nun hat der Begriff „kulturelle Aneignung“ inzwischen einen ausgesprochen schlechten Ruf. Wie sehen Sie das? Sollte in der Kunst alles frei benutzt werden können?
Marclay
Ja. Ich neige allerdings dazu, Dinge zu verwenden, die niemanden interessieren. Außer in meinen Filmen. Ich schaue mich um, sehe, was da ist und reagiere darauf. Ich wüsste nicht, wie ich anders vorgehen sollte. Ich denke also, dass man alles benutzen können sollte.
Es gibt eine Rechtsnorm namens „Fair Use“. Als seriöser Künstler dürfen Sie auch urheberrechtlich geschütztes Material verwenden.
Marclay
Es hängt davon ab, was man mit einem Werk, das man bearbeiten will, tatsächlich macht. Wenn man etwas Interessantes herstellt, werden die Leute es akzeptieren. Wenn Sie etwas tun, das den ursprünglichen Hersteller verärgert, könnte das problematisch sein. Oder wenn Sie Material, das Sie sich angeeignet haben, zum Verkauf von Produkten verwenden, werden Sie in Schwierigkeiten geraten.
In der Musik sind Urheberrechtsfragen besonders heikel.
Marclay
Musik ist ein gigantisches Geschäft voller Anwälte. Dabei lässt sich Musik so leicht verwandeln und weiter bearbeiten. Was ist denn Originalmusik? In unzähligen Gerichtsverfahren beschuldigen Menschen einander, Melodien gestohlen zu haben. Aber haben sie das? Man fährt im Auto, schaltet das Radio ein und hört jede Menge Melodien und Texte. Natürlich dringt dies in einen ein, man beginnt damit zu hantieren. Musik ist besonders heimtückisch. Sie wird auf seltsame Weise zu einem selbst, man absorbiert sie unbewusst.
Wie hält man die eigene Lust am Experimentieren wach?
Marclay
Man muss sich ständig selbst überraschen.
Beresford
Ein berühmter Jazzpianist hat eine Reihe von Regeln, die man als Musiker beherzigen sollte, online gestellt. Nummer eins ist: Spielen Sie nur, was Sie hören.“ Aber als Pianist muss man zwangsläufig Dinge spielen, die man nicht hört, denn jedes Klavier, das man spielt, ist anders. Manche Dinge funktionieren unerwartet nicht; man muss in Konzerten also all das verwenden, was ein Instrument gerade hergibt. Ich habe nie ein perfekt gestimmtes Klavier zur Verfügung. Aber jedes bietet mir Möglichkeiten. Eine davon ist, dass ich mich in einen großen Kampf mit dem Klavier verstricke, um das zu bekommen, was ich von ihm will. Dann wird die Musik genau das: ein Kampf.
Sie kämpfen aber nicht ständig mit Klavieren, oder?
Beresford
Nein, ich kann auch an ein Klavier gehen, eine Taste drücken und sagen: Okay, diese Note funktioniert; hoffen wir, dass auch die anderen in Ordnung sind. Es hat keinen Sinn, sich zu viele Sorgen zu machen. Beim Improvisieren geht es immer darum, Neues zu finden. Sie spielen also nicht, was Sie hören. Eine Sache, die Sie auf dem einen Piano spielen, wird auf dem nächsten zu einer ganz anderen Sache.
Musik ist ein wichtiger Teil Ihrer Arbeit. Sie haben Vinyl als Tonträger und quasi-skulpturales Material verwendet. Wie sehen Sie den Status dieses schweren physischen Objekts in einer zunehmend immateriellen Welt?
Marclay
Es ist wirklich interessant, wie fasziniert jüngere Generationen auf dieses analoge Objekt reagieren – sie lieben auch Audiocassetten. Sie entdecken Medien wieder, die sie gar nicht kennen. Heutzutage werden mehr Schallplatten produziert als zu der Zeit, als ich sie kaufte. Aber ich habe meine Sammlung in New York gelassen, ich bin kein DJ mehr, ich habe aufgehört, mit Platten aufzutreten. Ich finde andere Wege, Musik zu machen. Dieses kleine Buch mit Steve ist ein Beispiel dafür, wie man anders über Musik nachdenken kann.
Worauf zielen Sie musikalisch?
Marclay
Ich bin kein Komponist. Ich schaffe Umgebungen, in denen Musik geschehen kann, entwerfe Räume, die der Musik gewidmet sind. Oder zeige eben grafische Arbeiten, die man als Partitur interpretieren kann. Dieser Live-Aspekt ist mir sehr wichtig, und er steht im Gegensatz zu aufgenommener Musik. Das war von Anfang an so, als ich begann, mit Vinyl zu arbeiten: Ich kämpfte gegen die Idee der Aufnahme und förderte die Idee der live generierten Musik. Ich habe Schallplatten zerstört und zugleich Live-Events daraus gemacht.