"Perspectives" von MOTSA: Wie eine Sinuswelle
Das Landleben ist in Wien immer nur ein paar U-Bahn-Stationen entfernt. Hütteldorf, am westlichen Ende der U-Bahn-Linie 4 gelegen, ist einer dieser Orte, an dem nicht mehr zweifelsfrei gesagt werden kann, ob man sich noch in der Metropole oder doch schon in einem Dorf befindet. Hier, zwischen Wienerwald, Branntweinern und rustikalen Pizzerien, trägt nicht nur der Fußball-Traditionsverein Rapid Wien seine Heimspiele aus, hier hat auch der Wiener Musikproduzent, DJ und Elektropopper MOTSA seinen kreativen Zufluchtsort gefunden.
Besucht man aber Valerio Dittrich, wie MOTSA mit bürgerlichem Namen heißt, in seinem sonnendurchfluteten Hütteldorfer Heimstudio, so zeigt sich sehr schnell, dass zwischen tanzbaren Elektrobeats und dörflicher Idylle kein Widerspruch herrschen muss. Der Musiker mit eigenem Label fühlt sich hier, abseits der Großstadt, sichtlich wohl. Bevor die Listening-Session seines Albums „Perspectives“ beginnen kann, widmet sich MOTSA lieber seiner neuen Kaffeemaschine. Nur keine Hektik, kein Stress, man habe ja den ganzen Nachmittag Zeit. Seit ein paar Monaten versucht sich der begeisterte Hobbykoch Dittrich auch als Barista, kauft Kaffeebohnen nur noch beim Spezialisten, setzt auf die genaue Dosis und mahlt den Kaffee für jeden Espresso frisch.
So entspannt war MOTSA nicht immer. Seit 2017 lebt und werkt Dittrich in der ehemaligen Wohnung der Musikerin Anja Plaschg, die es unter ihrem Künstlerinnenpseudonym Soap&Skin zu internationaler Bekanntheit geschafft hat. Erst in diesem Refugium aus Wohnung und professionellem Heimstudio hat der 29-Jährige die Ruhe und den Raum gefunden, den er fürs Musikmachen benötigt. Wobei Ruhe, im Verständnis von MOTSA, auch einen ordentlichen Wumms bedeuten kann. Mit Kopfhörern will und kann er indes nicht arbeiten: „Ich komme aus der Tanzmusik, da ist die Bassentwicklung sehr wichtig“, sagt er: „Ich muss die Musik im Körper spüren.“
„Salvation“, also Erlösung, Rettung, nennt MOTSA folgerichtig den ersten Song, den er an seinem neuen Lebensmittelpunkt geschrieben hat. „Ich habe endlich das Zuhause gefunden, in dem ich mit freiem Geist Musik machen kann“, erklärt er im Gespräch mit profil. Geholfen hat ihm hier auch der Studioblick auf den Lainzer Tiergarten, eines der größten Naturschutzgebiete Wiens. Dass ein Dachgeschossausbau auf der gegenüberliegenden Straßenseite dem schönen Ausblick letzthin ein jähes Ende gesetzt hat, wurmt den Musiker noch immer. Viel Grün ist heute nicht mehr zu sehen.
Der Blick auf die Natur (und was die Menschen damit machen) ist auch eines der großen Themen auf „Perspectives“. In der Vorabsingle „No Fear“ lässt MOTSA (Regie: Rupert Höller) den Schauspieler Abde Maziane durch ein dystopisches Niemandsland in Spanien wandern, während David Österle, Sänger der Wiener Synthiepop-Band Hearts Hearts, zu den dunklen Beats singt. MOTSA thematisiert hier nicht nur die Zerstörung der Natur durch Menschenhand, sondern vor allem die Entkopplung davon. Die digitale Welt scheint die Menschen immer mehr in ihren Bann zu ziehen, so MOTSA, lässt Diskurse nicht mehr zu und schafft Abhängigkeiten. „Perspectives“, der Titel des Albums, steht daher für die unterschiedlichen Perspektiven, die man auf Konflikte – seien sie digitaler oder analoger Natur – haben kann. Dass man in diesen Auseinandersetzungen nicht hängen bleibt, vielmehr neue Impulse schafft, ist Ziel der musikalischen Lebensaufarbeitung. Nach dem Motto: rausgehen, Scheuklappen ablegen, Perspektive ändern.
Aufgewachsen ist Valerio Dittrich, Sohn eine Österreicherin und eines Russen, bei seiner Mutter in einem kleinen Fischerdorf in Schottland. „Idylle pur“, sagt er heute, auch wenn es für einen Jugendlichen in dem 600-Seelendorf nicht immer prickelnd war. Als Achtjähriger hat MOTSA (die Abkürzung steht für „Master Of Talking Shit, Always“) mit dem Klavierunterricht begonnen – damals mehr gezwungen als selbstbestimmt, lacht er. Immerhin komme er aus einer kreativen Familie; mit 12 spielte er Jazzklavier, lernte das Improvisieren und mit 16 die Liebe zur elektronischen Musik kennen. Für den schüchternen Buben war das die perfekte Möglichkeit, sich auszudrücken. Losgelassen hat ihn diese Faszination seitdem nicht mehr. Eigentlich wollte er nach der Matura in Schottland Biochemie studieren, hat sich dann aber doch für den kreativen Lebensweg und den Umzug nach Wien entschieden.
Musikalisch bewegt sich der Elektrofeingeist, nach Ausflügen in die Clubmusik (unter anderem mit dem Wiener Radiomacher Matthias Schönauer alias DJ Functionist), heute im Spannungsfeld aus harmoniebewussten Beats und düsteren Elektro-Arrangements. Die Synthieflächen klingen auf „Perspectives“ organisch und detailverliebt, es knarzt, knirscht und flirrt an allen Ecken und Enden, mal hört man vermeintliche Schritte im Studio, dann zirpen die Grillen am Fenster. Für die aktuellen Songs hat MOTSA in den letzten Jahren unzählige field recordings gesammelt – bei Spaziergängen im Wald, am Strand und bei Familienbesuchen in Moskau. Die Musik soll greifbar bleiben. Dass nach einigen EPs nun ein ganzes Studioalbum entstanden ist, sieht MOTSA vor allem auch als Herausforderung, nicht nur für sich als Künstler, sondern auch für seine Hörer. In den elf Songs hört man dem Künstler beim Leben und Nachdenken zu – inklusive aller Höhen und Tiefen.
Bleibt noch die Frage, ob MOTSA manchmal auch an seiner Profession zweifelt? Natürlich, sagt er, Momente des Zweifels gebe es immer – das sei wie eine Sinuswelle. Das Wichtigste sei aber der Spaß an der Musik, sagt er, auch wenn der hohe Anspruch an sein Projekt dieses nicht immer einfach mache. Heute weiß er: Es bringt nichts, verzweifelt an einem Song festzuhalten. Dann hilft es nur noch, die Arbeit mal liegen zu lassen. Er gehe dann raus in die Natur oder koche etwas. Das Schlimmste sei es, sagt er, „eine Nummer zu Tode zu arbeiten“. Man tauscht Elemente aus, nimmt andere Beats und verliert sich im grenzenlosen Songbaukasten: „Im Endeffekt nimmt man dem Song die Seele, zerstört ihn.“ Die Lieder, die in der Vergangenheit am besten funktioniert haben, die ihn heute noch glücklich und stolz machen, sind stets relativ schnell entstanden.
Am Ende der Listening-Session denkt MOTSA bereits an seine nächste Kreation. Er wechselt vom Studio in die Küche. Das Kochen ist für ihn nicht nur wichtiger Lebensbestandteil, er vergleicht es auch gerne mit dem Komponieren neuer Musik: „Außerdem ist es ein Ausgleich zur Studioarbeit.“ Während ein Konzertpianist Stücke nachinterpretiert, gleichsam nach Rezept kocht, wird es für ihn dort spannend, wo das Improvisieren beginnt – wenn Zutaten neu zusammengemischt werden und daraus Neues entsteht. Das muss gar nicht kompliziert sind, meint er noch. Manchmal sind die simplen Dinge die besseren, das sei wie in der Musik: „Das Schwierigste ist es, eine Geschichte auf den Punkt zu bringen.“
MOTSA: Perspectives (Petricolour)