Nachruf auf Peter Weibel: Der Lustdenker
Die Langsamkeit des höheren Alters hat ihm, wenigstens geistig, nie zugesetzt. Peter Weibel sprach bisweilen schneller, als sein Artikulationsapparat erlaubte; man hatte stets den Eindruck, seinen Ideen beim Sprudeln zuhören und zusehen zu können, und sie kamen eben in derart hoher Frequenz, so eruptiv, dass die von ihm produzierten Laute übereinander zu stolpern drohten. Weibel war der Prototyp eines freien Denkers, der weniger strategisch als euphorisch-fabulierend vor sich hin assoziierte und reflektierte: ein Lustdenker par excellence, der Kunst (und letztlich auch der Poesie) deutlich näher als der Wissenschaft.
Als der 1944 als Sohn einer Kellnerin und eines Wehrmachtsoffiziers in Odessa geborene Weibel nach einer Kindheit im Subproletariat, abgeschoben von einem Heim ins nächste, sich der Kunst überantwortete, war dies nur der nächste logische Schritt im Leben eines bildungshungrigen Autodidakten. In Paris und Wien studierte er Film, Literatur, Linguistik und Mathematik, kurzfristig auch Medizin, sprang von einem Wissensgebiet ins nächste, charakteristisch unstet, begann nebenbei schon 1965 kreativ zu arbeiten, schloss seine Studien wohl auch deshalb nie ab. Wer braucht einen Doktortitel, wenn man stattdessen als Brandredner an der Seite der Aktionisten an der Wiener Universität auch für „Kunst und Revolution“ agitieren (und dort wie auf Knopfdruck öffentliche Ärgernisse erregen) konnte?
Wiens Kunstszene um 1968 verstand es, Staub aufzuwirbeln, den Medienboulevard zu provozieren und die Bourgeoisie zu erschrecken, die keinen Sinn für den bösen Witz und die guten Pointen des Aktionismus und seiner flankierenden Kräfte entwickeln konnte. Peter Weibel fühlte sich im Biotop des angewandten Kunsttabubruchs sichtlich wohl, machte sich mit der Attitüde jugendlicher Respektlosigkeit schnell einen Namen, ein Mehrspartensportler zwischen Video- und Performance-Kunst, Medientheorie, Maschinenlyrik und Kino-Avantgarde. Mit der Künstlerin Valie Export führte Weibel irritierende öffentliche Aktionen durch, ließ sich von ihr 1968 als Vierbeiner an der Leine durch Wiens Straßen führen („Aus der Mappe der Hundigkeit“), lockte 1969 per Megafon („Überspringen Sie die vom Staat gezogenen Grenzen der Vernunft und der Sittlichkeit!“) in München Menschenmengen an, mit der Aufforderung, sich am „Tapp- und Tastkino“, das sich Export vor die nackte Brust geschnallt hatte, zu vergreifen.
Und Weibel blieb in Bewegung, er theoretisierte, performte (1967 etwa in Hans Scheugls bahnbrechendem Farbfilm „Hernals“, wieder mit Valie Export), beteiligte sich an internationalen Ausstellungen und produzierte in jedem Sinne kritische Bilder: Das Kino dachte er als „expanded“ neu, als über die Leinwand hinaus wirksame Kunst. Im selben Maße interessierten ihn aber auch die elektromagnetischen Bilder. In seinen „tele-aktionen“ stellte Weibel ab 1969 Störsignale für den Fernsehbetrieb her, Videorückkoppelungen und TV-Konsumenten-Bespiegelungen („The Endless Sandwich“, 1972). Auch die Musik nahm er, als Post-Punk und New Wave neue ästhetische Terrains eröffneten, gerne in Beschlag: Gemeinsam mit dem Künstler und Musiker Loys Egg gründete er 1978 die Band Hotel Morphila Orchester, ein paar Jahre später das Kollektiv Noa Noa. Das Morphila-Debüt „Schwarze Energie“ erschien 1982, die darauf vertretenen Songs tragen Titel wie „Sex in der Stadt“, „Stromtod“, „Liebe ist ein Hospital“ und „Was ist im Hirn“. Weibels eigenwilliger Rezitativstil – einen Sänger mag man ihn eher nicht nennen – prägt das Album.
Bereits Mitte der 1970er-Jahre setzte die Etablierung ein, und Peter Weibel avancierte vom Aktionist und Störenfried zum Medienphilosophen und Kunstlektor, erst an der Wiener Angewandten, dann auch in Kanada, Deutschland und den USA. Mehr als drei Jahrzehnte lang, zwischen 1984 und 2017, lehrte Weibel als Professor für visuelle Mediengestaltung an der Universität für Angewandte Kunst in Wien, nebenbei gestaltete er Österreichs Beiträge für die Biennale in Venedig mit, fungierte in den 1990er-Jahren auch als Chef der Neuen Galerie in Graz. Seit 1999 amtierte Weibel als Vorstand am ZKM, des Zentrums für Kunst und Medien Karlsruhe, wo er in seinen Büroräumen zwischen Zettelbergen und Bücherkisten in einer geradezu sagenhaften, die legendäre Wohnung der Dichterin Friederike Mayröcker noch in den Schatten stellenden Unordnung residierte.
Am 1. März starb Peter Weibel, dessen physische Gesundheit in den vergangenen Jahren schon merklich angeschlagen schien, wenige Tage vor seinem 79. Geburtstag und kurz vor seinem Abtritt in Karlsruhe. Er hatte vieles vor noch, wie er in rezenten Interviews feststellte, die Rückkehr nach Wien in eine Art Privatbibliothek hatte er beispielsweise fest geplant. Österreichs Kunstlandschaft der 1960er- und 1970er-Jahre hat er an vorderster Stelle mitdefiniert. Das Nachbeben seiner Ideen wird weiterhin zu spüren sein.