Erinnerungen an Elizabeth T. Spira (1942-2019)
Mitte der 1970er-Jahre: Toni Spira und ich machen eine kurze Urlaubsreise nach Rom. Wir besuchen den Vatikan, das Kolosseum, das Forum Romanum. Aber die italienische Hauptstadt hat uns in diesen Tagen noch etwas anderes zu bieten: Die Gewerkschaften haben zu einem Generalstreik aufgerufen. Zehntausende italienische Arbeiter ziehen durch Roms Straßen, skandieren Kampfparolen und schwenken rote Fahnen. Eine Sensation für den jungen Revoluzzer, der ich damals war. Ich bin begeistert und will mich in den "Bella Ciao" singenden Demo-Zug einreihen. Toni will das partout nicht. Solche Massenaufzüge seien ihr eher unangenehm, sagt sie. Und flatternde rote Fahnen habe sie schon genug gesehen.
Es stimmt ja. Als Tochter des jüdischen Kommunisten Leopold Spira, der aus der englischen Emigration zurückgekehrt war, um in der Heimat den Sozialismus aufzubauen, hatte sie in ihrer Kindheit jede Menge linker Umzüge, Schulungen und Kampflieder abbekommen. Mit 14 nahm sie Abschied von ihrer KP-Kindheit, vom Stalinismus ihrer frühen Jahre. Ihr Vater folgte ihr ein Jahrzehnt später nach und verließ die Kommunistische Partei. Diese Erfahrungen haben sie für immer immunisiert gegen Parteien, Parolen und Ideologien.
Links ist Toni trotzdem geblieben. Sie war eine Achtundsechzigerin durch und durch. Linke Organisationen und K-Gruppen, die in der Folge der Jugendrevolte wie Pilze aus dem Boden schossen, blieben ihr freilich suspekt; gegenüber Bewegungen, selbst wenn sie ihr sympathisch waren, hielt sie immer eine ironische Distanz.
In einem Buchbeitrag unter dem Titel "Geburtslinke ohne Parteilokal" beantwortete sie einmal die Frage, was für sie von 1968 bleibe: "Eine gewisse Respektlosigkeit. Eine unausbleibliche Unangepasstheit. Eine Skepsis gegen Parteifunktionäre, Machtinhaber. Solidarität mit Flüchtlingen, Verfolgten. Und Armen. Und ein großer Ekel vor Rassismus." Das war ihr Programm, zugleich ihre Selbstbeschreibung.
Dem jüdischen Kommunistenkind im dunklen Wien der 1950er-Jahre war der Weg zur Anpassung von vornherein verwehrt. Und wo immer in Österreich später Konflikte aufbrachen, die ORF-Reporterin Toni Spira war vor Ort. Wenn es etwa um die Fristenlösung, Homosexualität, Korruption wie in der burgenländischen SP, den Kärntner Ortstafelkonflikt oder Waldheim ging -immer tauchte die kleine dunkle Schönheit mit dem (damals mit einem bunten Seidentuch gebändigten) Kraushaar auf.
Sie kam mit einem Kamerateam, stellte ihre respektlosen Fragen und berichtete ungeschminkt vom Geschehen, ob das den Mächtigen nun passte oder nicht. Sie eckte an. Wurde zuweilen bedroht. Dem Rausschmiss aus dem ORF entging sie nur knapp. Schließlich schob man sie in eine unpolitische Abteilung ab. Und was als Bestrafung der allzu Aufmüpfigen gedacht war, wurde ihr Glück. In den "Alltagsgeschichten" fand Toni Spira ihr Genre. Oder besser: Sie schuf sich damit ihr eigenes.
Eine unausbleibliche Unangepasstheit. Respektlosigkeit. Solidarität mit Flüchtlingen, Verfolgten, Armen. Und ein großer Ekel vor Rassismus.
Zunächst ging es um Oral History. Sie ließ die Protagonisten ihrer Filme, alte Leute, auf das Leben zurückblicken. Und so entstand mit wunderbaren Filmen wie "Kindheit in der Kaiserzeit","Knechte und Mägde","Auf der Walz" oder "Erste Liebe in der Monarchie" ein Panorama des 20. Jahrhunderts , das längst versunkene Zeiten wieder lebendig machte, bestens unterhielt und noch Generationen von Historikern als Fundgrube dienen wird.
Schon in ihrer "historischen Periode" wusste sie, dass die sogenannten kleinen Leute interessanter sind als die großen , die Vorstadt ergiebiger ist als die Innenstadt und der Herr Hofrat im Kaffeehaus (wo sie sich selbst heimisch fühlte) weniger gut erzählt als der Hackler im Meidlinger Wirtshaus. Da zeigte sich ihr einmaliges Talent: zu erkennen, was eine gute Geschichte ist -sei sie nun tragisch, komisch, erschreckend, absurd oder poetisch.
Und als sie begann, von der Historie in die Gegenwart des Alltags vorzustoßen, machte sie sich mit der Kamera auf Erkundungsfahrt, nicht in die Villenvierteln und Bürgersalons, sondern in die Fabrik, auf die Donauinsel, ins Tröpferlbad, in die Schrebergärten, an den Gürtel, in den Waschsalon und das Unterwelt-Espresso. Lauter filmische Juwelen, die noch Jahrzehnte nach ihrer Entstehung glänzen.
Toni Spira polarisierte
Dass die Rechten die so gar nicht bodenständige freche Linke nicht mochten, war klar. Die Konservativen wollten sich den Alltag der "Proleten" ohnehin nicht ansehen. Aber auch die feinen Fortschrittlichen rümpften die Nase: Von Freakshow und Sozialporno war häufig die Rede. Da würden die Ärmsten der Armen vorgeführt und der Lächerlichkeit preisgegeben, hieß es.
Diese selbst sahen das freilich ganz anders; sie fühlten sich mitnichten verhöhnt, waren sogar meist stolz auf ihre Fernsehauftritte. Die "Alltagsgeschichten" fanden ein begeistertes Massenpublikum.
Offenbar trafen diese Filme auf ein tiefes, bislang ungestilltes Bedürfnis. Spira kombinierte den distanzierten, zuweilen auch boshaften Blick der Außenseiterin mit einer zugleich großen Fähigkeit zur Empathie. Sie gab den Abgehängten und Erniedrigten tatsächlich eine Stimme, und sie bildete die österreichische Gesellschaft mit all ihren Abgründen ab -manchmal in karikierender Weise, aber immer wahrhaftig. Das spürten die Menschen. Toni Spira legte die österreichische Seele frei. Sie schuf Identität.
In ihrer Kuppelshow "Liebesg'schichten und Heiratssachen", die seit 20 Jahren läuft, blieb sie bei den kleinen eindrücklichen Porträts, aus denen schon ihre "Alltagsgeschichten" zusammengesetzt waren. Es sind Miniaturen der Einsamkeit, in denen aber auch Hoffnung steckt -eine ganz realistische: Dutzende der Partnersuchenden fanden durch Toni Spira ihr Liebesglück. Und wo die Verkuppelung nicht unmittelbar erfolgreich war, erlebten die Männer und Frauen, die ihr Single-Dasein beenden wollten, oft Zuwendung und Anerkennung in einem Ausmaß, das sie in ihrem Leben bis dahin noch nicht erfahren hatten.
So wurde die geniale Chronistin der österreichischen Verhältnisse schließlich auch zur Wohltäterin. Dafür wurde sie geliebt und geradezu als Kultfigur verehrt. Das ist umso erstaunlicher, als sie doch in ihren Filmen nie selbst ins Bild kam. Die Interviewerin blieb stets im Off. Trotzdem wurde sie überall, wo sie auftauchte, erkannt, nicht zuletzt auch wegen ihrer rauchigen Stimme mit dem ironischen Unterton.
Toni Spira konnte sich ein Leben ohne Arbeit nicht vorstellen. Noch bis zuletzt, schon sehr schwach, arbeitete sie an einer neuen Staffel der "Liebesg'schichten und Heiratssachen". Und auch unser regelmäßiges sonntägliches Kartenspiel wollte sie nicht missen. "Rizkiki" nannten wir es -eine Art Whist, ein Spiel, das ihre Eltern aus der englischen Emigration mitgebracht hatten. Zehn Tage vor ihrem Tod, ihr Gesundheitszustand hatte sich bereits sehr verschlechtert, zählten wir wieder Stiche. Auch diesmal endete das Spiel, wie so oft, mit einem glänzenden Sieg von Toni. Und es war ihr wichtig. Sie blieb die unangefochtene Rizkiki-Großmeisterin.