Regiseurin Marie Kreutzer (links) und die Schauspielerin Valerie Pachner

Nervenkrisenkino aus Wien bei der Berlinale

Marie Kreutzers Wettbewerbsbeitrag stößt bei den 69. Filmfestspielen in Berlin auf geteilte Reaktionen.

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Der Boden unter den Füßen ist bekanntlich vor allem dazu da, weggezogen zu werden. So will es das Sprichwort. Wenn Marie Kreutzer ihren neuen Film also eben "Der Boden unter den Füßen" nennt, ahnt man, dass es darin um psychische Krisen der dramatischeren Sorte gehen wird.

Und tatsächlich zeichnet die Filmemacherin eine doppelte Desintegration nach: Die junge Unternehmensberaterin Lola, die verbissen an ihrer Karriere arbeitet, sieht sich mit dem Problem konfrontiert, dass ihre an paranoider Schizophrenie leidende ältere Schwester, als deren Vormund sie agiert, eine Überdosis an Tabletten geschluckt hat – und nun in der Psychiatrie dringend Beistand bräuchte, den die dauergestresste Geschäftsfrau ihr aber nicht geben kann (und will). Das Großprojekt, an dem sie mit ihrem Team arbeitet, geht vor. Mit der unterlassenen Hilfeleistung wächst das schlechte Gewissen, dazu kommen massive Intrigen am Arbeitsplatz, libidinöse und geschäftliche Komplikationen. Und Lola, man muss es so sagen, rennt: vom Frühsport bis zur Nachtschicht, von einem Flughafen-Terminal zum nächsten, von einem Hotelzimmer ins andere. Bis sie selbst zu halluzinieren beginnt, abzustürzen droht.

Marie Kreutzer hat es sich mit diesem Film nicht leicht gemacht: "Der Boden unter den Füßen" ist thematisch prallvoll, die Inszenierung übt Sozial- und Kapitalismuskritik, kommentiert Gender-Politik und Familientraumata, bemüht Thriller-, Comedy- und Dramen-Elemente. Mit Interesse und viel Medienecho wurde der Film daher nun, anlässlich seiner Weltpremiere im Wettbewerb der laufenden Berlinale, bedacht. Aber die hohe Ambition des filmischen Entwurfs ist zugleich auch seine Schwäche: Die Regisseurin und Autorin nimmt sich zu viel vor, setzt gesellschaftliches "Funktionieren" zu offensichtlich gegen eine dysfunktionale Psyche, und Lola, konzentriert verkörpert von Valerie Pachner, ist als Figur (und durch das Milieu, in dem sie arbeitet) auch eine Spur zu nahe an Maren Ades Ausnahmefilm "Toni Erdmann", dessen originellen, stets überraschenden Tonfall Kreutzer leider nie erreicht. Zu eindimensional, auch humorlos erscheinen die Hauptfiguren, die eine bruchlos zielstrebig, mit heimlicher, knallharter Gespielin (Mavie Hörbiger), die zugleich ihre Chefin ist, die andere unrettbar lebensmüde. Dabei ist der Film, von ein paar herben Drehbuchschwächen abgesehen, nicht nur visuell sauber gelöst, sondern auch schauspielerisch durchaus stark – Pia Hierzegger als lebensmüde Schwester etwa bewältigt ihre schwierige Aufgabe erstaunlich sicher.

Der Film, der demnächst übrigens auch das Austro-Filmfestival, die Grazer Diagonale, eröffnen wird, spaltete die internationale Kritik: Während die einen darin ein "fesselndes, intelligentes Psychodrama" sahen, wie die Kritikerin des US-Branchenblatts "Variety", monierte etwa die "FAZ", dass Kreutzer "so viel Stilwillen in die Geschichte zweier ungleicher Schwestern gesteckt" habe, "dass ihr für die dramaturgische Ausarbeitung offenbar keine Kraft mehr blieb".

Einiges an Absurditäten hat der Berlinale-Wettbewerb daneben aufzubieten: einen mongolischen Film etwa, der an Exzentrik alle Konkurrenten bisher hinter sich ließ; der chinesische Regisseur Wang Quan’an, der vor 12 Jahren mit "Tuyas Hochzeit" hier den Goldenen Bären gewann, destilliert in "Öndög" aus einem Mordfall ein spannendes Erzählexperiment, das in den Weiten der mongolischen Steppe spielt. Fatih Akins Verfilmung des Heinz-Strunk-Bestsellers "Der Goldene Handschuh" dagegen warf eher die Frage auf, an welches Publikum sich eine hochdotierte deutsche Produktion richten will, die in aller Akribie eine historische Frauenmörderexistenz aus den miefigen 1970er-Jahren in der Halbwelt von St. Pauli nachzeichnet. Neben seiner ultrazynischen, von süßlicher Schlagermusik beschallten Detailschilderung von Saufexzessen, Vergewaltigung, Mord und Leichenzerlegung – und in der Outrage nicht nur des jungen Hauptdarstellers Jonas Dassler, der Fritz Honka spielt – scheint sich Akin vor allem für die Groteske zu interessieren, nicht für psychologische Hintergründe oder gar politische Zusammenhänge. So wird der Regisseur dem Tonfall des Romans zwar gerecht, aber durch die Verlegung ins Kino wird die Ekelerregung, auf die es auch Strunk angelegt hat, praktisch unerträglich – und zwecklos.

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.