Patric Chiha, 48, geboren in Wien, aber seit 30 Jahren in Paris zuhause, studierte erst Modedesign, ehe er sich 2004 dem Kino zuwandte. Seinen ersten Spielfilm, „Domaine“, legte er 2009 vor, die Hauptrolle übernahm die wagemutige französische Schauspielerin Béatrice Dalle, die nun auch in „Das Tier im Dschungel“ wieder auftritt. Chiha hat in „Brüder der Nacht“ (2016) den Wiener Schwulenstrich porträtiert und in „Si c'était de l’amour“ (2020) eine Choreografie von Gisèle Vienne mit der Kamera begleitet; das Fiktionale schwingt auch in diesen scheinbar dokumentarischen Arbeiten deutlich mit.
Chihas Henry-James-Adaption „Das Tier im Dschungel“ ist als zeitlos-nachtfarbenes Meta-Melodram um ein von Anaïs Demoustier und Tom Mercier gespieltes junges Paar angelegt, das sich 1979 in einem Club kennenlernt und zweieinhalb Jahrzehnte mehr neben- als miteinander verbringt. Die Weltgeschichte läuft nebenbei auf einem alten Röhrenfernseher ab: von der Aids-Krise über den Mauerfall bis zum Terror von 9/11.
Eine existenzialistische Novelle, die der Amerikaner Henry James 1903 verfasst hat, liegt Ihrem Film zugrunde: „The Beast in the Jungle“ handelt von einer unmöglichen Liebe – und von den Konsequenzen des Glaubens an ein schicksalhaft geprägtes Leben. Sie entnehmen Ihrer Vorlage nur die Grundmotive und machen etwas ganz Eigenes daraus: nämlich die Parabel eines über Dekaden in einem Club festsitzenden Paars, während das ausgehende 20. Jahrhundert vorbeizieht.
Chiha
Mich fasziniert dieser Text. Er hat Ähnlichkeit mit einem griechischen Mythos, in seiner absoluten Einfachheit und doch so großen Rätselhaftigkeit.
Wofür steht die titelgebende Dschungelbestie? Für das erschütternde Ereignis, das der Protagonist John auf sich zukommen sieht?
Chiha
Das gehört zu den Mysterien dieser Erzählung. Die letzte Szene des Films haben wir am Wiener Zentralfriedhof gedreht, dort herrschte Mitte Jänner seltsam sommerliches Licht. Und exakt wie im Buch kam plötzlich starker Wind auf. Da sprang unversehens etwas hervor, das John aufs Grab warf. So steht es bei Henry James. Das Tier, das im Titel steht, könnte also auch Johns Bewusstsein darstellen. Am Ende begreift er. Zu spät allerdings.
Die stilisierte Form Ihres Films ergibt sich aus einer Reihe von Widersprüchen und Ambivalenzen: Die Euphorie des Club-Lebens trifft auf eine starke Melancholie; dem Hedonismus der im Tanz sich Verschwendenden begegnet das Paar mit Askese, dem wilden Treiben der Nachtvögel mit Passivität. Dies alles zeigen Sie in einer Mischung aus dokumentarischer Unmittelbarkeit und starker Künstlichkeit.
Chiha
Für mich ist das eine natürliche Welt, in der ich mir den denkbar unnatürlichsten Schauplatz, diesen Nachtclub, ausgesucht habe. Ich wollte einen Ton finden, der nahe an Telenovelas ist, an einer demonstrativen Überemotionalität. Als ich jünger war, fühlte ich mich in meinen filmischen Vorlieben fast gespalten: zwischen Straub/Huillet und Douglas Sirk, zwischen Almodóvar und Godard, Oliveira und Fassbinder. Das ganz Einfache, Harte, Direkte traf in mir auf das Hysterisierte, Melodramatische. Aber diese Mischung bin ich eben. Und inzwischen trau ich mich auch, sie im Kino auszuleben.
Wo wurde „Das Tier im Dschungel gedreht? Ist das ein realer Club?
Chiha
Ja. Das ist ein sehr bekannter Brüsseler Club, entstanden aus einem Kino der 1950er-Jahre, das in der Architektur erhalten geblieben ist, mit Leinwand und Balkonen. Ich habe übrigens noch nie Schauplätze gebaut, da ist mein Faible fürs Dokumentarische zu stark. Einmal hatte man mir für eine Szene nur eine Tür gebaut – ich habe es nicht geschafft, sie zu filmen. Man glaubt nicht an sie. Es musste also ein echter Club sein, mit echten WCs, die wir in der Wiener Pratersauna drehten. So waren wir beim Drehen alle in Clubstimmung, spielten ständig Musik und tanzten.
Entstehen Ihre Filme in erster Linie aus einer cinephilen Veranlagung?
Chiha
Auch, aber ich bin kein Fetischist. Viele meiner Kolleginnen und Kollegen in Paris sind viel cinephiler als ich. Ich gehe jede Woche dreimal ins Kino, das ist mir wichtig. Daheim kann ich keine Filme sehen. Und Serien interessieren mich kaum, da ist das Gefühl der Zeit ein ganz anderes. Mir war immer klar, dass James’ Erzählung stark mit mit dem Führen von Regie, auch mit dem Sehen von Filmen zu tun hat. Wir warten alle auf etwas, schauen passiv und hoffen darauf, dass uns das Leben anspringt.
Sie haben keine Angst vor filmischen Stereotypen.
Chiha
Nein, Kino arbeitet immer mit Klischees und Oberflächen, mit Moden und Zeichen.
Sie verwenden auch die alte melodramatische Musik sehr zeichenhaft.
Chiha
Ja, die Ouvertüre aus Wagners „Lohengrin“ flammt immer wieder auf. Das musste emotional over the top sein – Telenovela eben.
Proben Sie vorab?
Chiha
Nie. Aber ich verbringe viel Zeit mit dem Ensemble. Denn es geht, auch im Kino, immer um den Körper. Wir haben anfangs Modefotos aus den 1940er-Jahren nachgestellt, die fast übertrieben stilisiert wirken. Wie berührt man einander? Anaïs Demoustier, die in meinem Film an der Seite von Tom Mercier spielt, fragte am ersten Drehtag: „Patric, ist das nicht ein bisschen zu viel?“ Ich sagte ihr: „Wenn es zu viel erscheint: Mach doppelt!“ Ich liebe expressives Schauspiel! Naturalistisches Spiel erscheint mir meist als das falsche, als die fruchtlose Nachahmung einer Wirklichkeit. Kino ist doch die künstlichste Kunst: Wir zerschneiden ständig Zeit und Raum. Ich liebe auch leicht wacklige Schienenfahrten viel mehr als Steadycam-Aufnahmen. Man soll sehen, wie Filme fabriziert worden sind.
Sie legen Wert auf antiautoritäres Drehen?
Chiha
Für mich hat Regie mit Liebe und Vertrauen zu tun. Alle sollen sich frei fühlen, es muss ein Fest, eine Freude sein.
Sind Sie beim Filmemachen nie gestresst oder überfordert?
Chiha
Nicht während des Drehens. Ich glaube an Emotionen: Ich will über mobilisierte Gefühle an neue Erkenntnisse kommen, mich auch selbst überraschen.
Dem österreichischen Kino fühlen Sie sich weniger verbunden, oder?
Chiha
Es ist mir, abgesehen vom dokumentarischen Film, oft fremd in seinem Kalkül, in dieser Härte und Freudlosigkeit.
Obwohl Ihr Film heterosexuelle Attraktion verhandelt, besitzt er eine sehr queere Sensibilität.
Chiha
Wenn mich an der queerness etwas interessiert, dann ist es das Fluide. Wir tragen alle, jede und jeder, verschiedene Identitäten in uns.
Und diese Identitäten äußern sich physisch und sprachlich.
Chiha
Die Form der Sprache beschäftigt mich sehr, vielleicht auch, weil ich selbst zwischen den Sprachen lebe. Eric Rohmer hat das so formuliert: Sprache ist eine Aktion, nicht bloß ein Austausch von Information. Zeit zu verlieren im Plaudern gehört doch zum Schönsten, das wir uns leisten können. Auch in meinem Film „Brüder der Nacht“ geht es um Formen der Sprache, nicht so sehr darum, worüber diese jungen Stricher reden. Literatur ist mir mindestens so wichtig wie das Kino.