„Kei Herz net“: Autorin Andrea Roedig über ihr neues Buch
Passt ein Menschenleben zwischen Buchdeckel? „Erinnern ist Arbeit, wenn auch keine Schwerstarbeit“, sagt Andrea Roedig, 59, Mitherausgeberin der Literaturzeitschrift „Wespennest“ und Autorin von „Man kann Müttern nicht trauen“, ihrem jüngst erschienenen Lebensbild einer Fremden. Sie habe dabei nicht auf Vollständigkeit gesetzt. „Lücken im Gedächtnis sind manchmal aufschlussreicher als das, was man erinnert.“
Roedig argumentiert im Horizont jener Formel, die der Schriftsteller Peter Weiss vor mehr als 60 Jahren in der Erzählung „Abschied von den Eltern“ entwarf: „Nie habe ich das Wesen dieser beiden Portalfiguren meines Lebens deuten und fassen können. Bei ihrem fast gleichzeitigen Tod sah ich, wie entfremdet ich ihnen war.“
Viele Mütterbücher setzen genau hier an: Von Niklas Franks Abrechnung „Meine deutsche Mutter“ (2005) über Peter Wawerzineks Schmerzbericht „Rabenliebe“ (2010) bis zum mit bitterer Komik verfassten Lebewohl „Mutter“ (2006) des US-Autors Donald Antrim. „Man kann Müttern nicht trauen“ stellt insofern eine Ausnahme, als sich hier eine Tochter an die Schrecken des Erwachsenwerdens erinnert.
Die Mutter Liselotte, von der Tochter Lilo genannt, wurde 1938 in ein katholisches Düsseldorfer Milieu hineingeboren, rabiat regiert von Roedigs Großmutter: „Hauen auf den Kopf, paff, paff, paff, wie im blinden Hass. Hartes Treten in den Hintern.“ Die Oma als „Mutter-Monster“. Lilo heiratete später in eine Familie von Fleischern hinein; sie als strahlende Chefin vorn im Laden, ihr Ehemann Franz-Josef in der Wurstküche.
Es folgten Höhenflüge und Abstürze: Alltag, Arbeit, Alkohol – Lilos Lebensdreiklang. Dazu die quälerische Mischung aus Scham, Angst und Stolz, Selbstgerechtigkeit und Selbstmitleid. Franz-Josef, wie er vor allen Augen Lilos Brüste in Händen wog. Franz-Josef, der mit dem Metzgermesser auf Lilo losging. Lange Samstagabende als reine Schrei-Orgien. Als Andrea zwölf Jahre alt war, kehrte Lilo der Familie den Rücken und verschwand für drei Jahre. „Wir Kinder kamen ihr nicht in den Sinn beim Wort Liebe“, schreibt Roedig.
„Man kann Müttern nicht trauen“ erzählt die Geschichte einer Entfremdung. Roedigs Grundgefühl für ihre inzwischen verstorbene Mutter ist ein in großer Distanz erstarrter Versuch des Verstehens. Es findet keine Verklärung statt und keine finale Verurteilung: Wie in einem Fehlerbild sucht Roedig die Abweichungen und Mängel, ihr Groll gegen die Mutter speist sich aus einem dunklen Fundus. Zum Beispiel die Sache mit dem Kartenspiel. „Du hast kei Herz net?“, sagt Lilo zu ihrer Tochter, weil dieser ebenjene Farbe fehlt: „Es trifft mich tief, es erschreckt mich, als wäre ich ertappt worden, ich lese das als klaren Vorwurf von ihrer Seite.“
Wiederholt greift Roedig auf alte Aufzeichnungen zurück: „Das Wiederlesen der eigenen Tagebücher war teils berührend, teils peinlich und erschreckend“, sagt sie: „Erschrocken bin ich auch über die Menge an Text, die ich als Jugendliche produziert habe – ich habe manisch geschrieben, weil Schreiben die Rettung war.“
Viele Erkenntnisse summieren sich in „Man kann Müttern nicht trauen“. Der Plural im Titel ist allerdings fehl am Platz. Die Geschichte, die Roedig erzählt, berichtet nicht vom „allgemeinen Formelvorrat für die Biografie eines Frauenlebens“, von dem Peter Handke in seinem Mutterbuch „Wunschloses Unglück“ sprach. „Man kann Müttern nicht trauen“ widmet sich dem Phänomen M. als Einzelfall. Das ist nicht wenig. Aber weniger, als der Titel verspricht. Es informiert von einem Dasein, das die Tochter im Nachhaken in Plus und Minus zu ordnen versucht, an keiner Stelle mittels kitschigem Herz- und Schmerzanteil, meist so kantig wie karg.
Und die Gegenwart der Vergangenheit? „Ich habe gelernt, dass Erinnern nicht so magisch und plötzlich geschieht, wie es manchmal suggeriert wird“, sagt Roedig: „Dieser ,Madeleine-Moment‘, wie Proust ihn beschreibt, ist ein Mythos.“ Gerade deshalb kehrt sie in „Man kann Müttern nicht trauen“ das Unterste zuoberst.