Neues vom Spinner: Regisseur Wes Anderson reist nach "Asteroid City"
Das Diorama ist Wes Andersons Terrain. Seine Filme ähneln Puppenhäusern, sie sind, im Wortsinn, Ansichtssache, denn man muss sehr genau in sie hineinblicken, um sich einen Reim auf ihre Konstruktion machen zu können: die Welt als Wille und Wunderkammer, jeder Schauplatz ein Schaukasten, sein eigener, unerschöpflich detaillierter Mikrokosmos.
Die Oberflächen der Welt sind in Wes Andersons Filmen so sehr (und so zwanghaft) in Ordnung gebracht, dass einem schwindelig werden könnte vor all ihren rechten Winkeln und Symmetrien, ihren abgezirkelten Parallelfahrten, ihrer Aufgeräumtheit und exakt farbabgestimmten Ausstattung. Dies ist das – in der Wissenschaft noch nicht hinreichend beschriebene – Anderson-Paradoxon: Hinter der Superklarheit eines streng systematisierten Universums verbirgt sich eine Art Vertigo – die nackte Angst vor einem Leben, dem emotionales oder politisches Chaos droht, in dem Trauer, Tod und unerwidertes Begehren jederzeit die Oberhand gewinnen könnten.
Kraterwelt
Im fiktiven Asteroid City, einer wegen ihres gigantischen Meteoritenkraters prädestinierten Ministadt im amerikanischen Südwesten, veranstaltet die Forschungsabteilung des US-Militärs 1955 eine „Stargazer Convention“ für jugendliche Hochbegabte. Eine dort gefundene Gesteinskugel, die von einem fernen Mond zu stammen scheint, ist dort das Fetischobjekt Nummer eins.
„Asteroid City“, Andersons elfter Film, glänzt in unwirklichen Farbtönen: In das Azur des Himmels mischt sich giftiges Grün, der Wüstensand und die Felsen in der Distanz schimmern in grellem Orange. Das Outdoor-Bühnenbild variiert das ländliche Amerika der mittleren 1950er-Jahre. Die synthetische Stadt wurde mitten in eine spanische Wüstenlandschaft gebaut: Sie umfasst eine Tankstelle, eine Autowerkstatt, eine Imbissstube, eine Sternwarte, ein paar Bungalows, künstliche Kakteen und eine geschätzt acht Meter lange, ins Nichts führende Autobahnauffahrt. In ein paar Kilometern Entfernung werden Nukleartests durchgeführt, dann und wann wächst ein Atompilz in den Himmel. Am Ende der Welt ist die kommende Apokalypse besonders sinnträchtig zu besprechen.
V-Effekt
Die Menschen sind seltsam, das ist eine wesentliche Prämisse im Schaffen des 1969 geborenen Texaners. Unrealistisch ist das nicht: Wer nur genau genug hinschaut, wird die Schrulligkeiten und Eigenheiten jedes Individuums erkennen können. Die Prominenz des Ensembles sorgt für zusätzliche V-Effekte: Scarlett Johansson, Tilda Swinton, Tom Hanks und Matt Dillon, Bryan Cranston und Adrien Brody treiben durch diesen Film; für Wes Anderson übernimmt man gern auch winzige Rollen. Es ist jedoch Anderson-Favorit Jason Schwartzman, der als Fotograf und ratloser Alleinerzieher von vier Kindern das tragikomische Zentrum dieses Films darstellt.
Seit 2005 lebt Anderson, in New York City sozialisiert, in Paris. Inzwischen könnte man ihn fast schon einen europäischen Filmemacher nennen. In der Familien- und Wunderkinderkomödie „The Royal Tenenbaums“ (2001) bildete er seinen Stil erstmals aus; von seiner indischen Zugreise „Darjeeling Limited“ (2007) und der Pfadfinder-Amour-fou „Moonrise Kingdom“ (2012) arbeitete er sich zu „The French Dispatch“ (2021) voran, einer Hommage an das legendäre Magazin „The New Yorker“. 2009 und 2018 inszenierte Anderson zudem zwei hochverdichtete Stop-Motion-Trickfilme („Fantastic Mr. Fox“ und „Isle of Dogs“).
Mumifizierte Spitzmaus
Auch abseits seiner Kinoarbeit bereichert er in seinem kaum verwechselbaren Stil die mitteleuropäische Hochkultur. Für das Mailänder Museum der Fondazione Prada hat er 2015 eine Bar gestaltet, die nun tatsächlich wie eines seiner Filmsets aussieht. Und Österreich fühlt sich Anderson sehr zugetan: „Ich liebe Wien“, meinte er am Rande eines profil-Interviews 2012; das Kunsthistorische Museum und die Staatsoper vor allem, und es gebe da ein paar Restaurants, nach denen er richtiggehend süchtig sei. Diese Beziehung galt es zu intensivieren: Im Herbst 2018 konzipierte Anderson, gemeinsam mit seiner Partnerin, der Designerin, Illustratorin und Schriftstellerin Juman Malouf, eine Ausstellung im Wiener Kunsthistorischen Museum, indem er die Sammlung des Hauses eigensinnig neu ordnete, dabei farblich und gedanklich ungeahnte Verbindungen herstellte. Das Paar nannte die Show gewohnt unorthodox: „Spitzmaus Mummy in a Coffin and Other Treasures“.
Als passionierten Schatzsucher muss man sich den Kinostilisten Wes Anderson tatsächlich vorstellen. Optischen Sensationen jagt er mit verblüffender Beharrlichkeit hinterher. Der Gegenwart bleiben seine Filme in der Regel fern, um von den verschütteten Bildwelten vergangener Dekaden fantasieren zu können - und diese wie Zukunftsvisionen aussehen zu lassen. Andersons Erzählungen sind randvoll mit Retro-Technologie. Er liebe den Look alter Geräte, sagt der Regisseur: „Eine sich drehende Schallplatte ist viel schöner als eine digitale Abspielanzeige. Und Figuren, die im Kino dauernd Zigaretten konsumieren, sehen ebenfalls toll aus.“ Mit seinem eigenen Leben habe das allerdings wenig zu tun. Er rauche nicht, und einen Plattenspieler besitze er auch nicht.
Tilda in Technicolor
Schon sein erster Kurzfilm, die Vorstudie zum Anderson-Debüt „Bottle Rocket“, klang 1994 jazzig, am Soundtrack tönten Artie Shaw und Horace Silver. Andersons Filme waren immer schon Zeitmaschinen. Seit „Rushmore“ (1998) stilisiert er seine Inszenierungen gern mit intensiver Farbgebung. Tilda Swinton etwa wird in „Moonrise Kingdom“ (2012) in strahlendem Kobaltblau in Szene gesetzt, als wäre sie einem der Filme des Regie-Duos Powell & Pressburger, die nicht umsonst so oft Farben im Titel tragen („Black Narcissus“, „The Red Shoes“), entstiegen: eine Erscheinung in Technicolor. Farbe und Text, sagt Anderson, seien in seiner Arbeit „einander fast entgegen gesetzt“.
Perfektionismus lässt er sich dennoch nicht unterstellen. „Die Art von Film, die ich mache, hätte ohne eine sehr exakte Auseinandersetzung mit den Details nicht den geringsten Sinn. In meinen Werken geht es vor allem um Atmosphäre und anmutige Kleinigkeiten. Ich bin nicht Stephen King, brauche daher langwierige Feinarbeit.“ Gedächtnis und Fantasterei gehen bei Wes Anderson seltsame Mischverhältnisse ein. Seine Filme seien voller Dinge aus seiner Kindheit, die einst in seinem Kopf wirbelten, wenn er nachts nicht schlafen konnte.
Wo der Stil keinen Namen hat
Als Neudeuter der amerikanischen Filmkomödie genießt Anderson Weltgeltung. Meist gehe er davon aus, dass seine Filme „viel dunkler“ werden, als sie am Ende erscheinen. Bisweilen überrascht ihn selbst, dass aus seinen Filmprojekten am Ende unweigerlich Komödien werden. Um Existenzielles geht es auch in „Asteroid City“, nur merkt man dies erst mit Verzögerung, weil die artifizielle Ausstattung und die geistreich ziselierte Comedy so viele Pointen in so kurzer Zeit aufrufen, dass man mit dem Schauen und Hören kaum mitkommt.
Von kindlicher Spielfreude sind alle Anderson-Arbeiten getragen, aber ihr komplexes Wesen ist in Begriffen und Kategorien nicht leicht zu erfassen; sie sind weder realistisch noch surrealistisch, vielmehr etwas Drittes, Meta-Erzählerisches, für das es vorläufig noch keine Bezeichnung gibt. Anderson selbst sieht es pragmatischer: „Für mich sind die Dinge, die ich schreibe und inszeniere, meine einzige Möglichkeit. Ich kann nur so arbeiten.“
Seine erste Produktion für einen Streamingdienst stellt Anderson dieser Tage fertig: Für Netflix hat er Roald Dahls 1977 erschienene Kurzgeschichtensammlung „The Wonderful Story of Henry Sugar“ bearbeitet. An seiner Seite: Hauptdarsteller Benedict Cumberbatch. Der Film wird im Herbst auf Netflix erscheinen. In den sieben Stories, die Dahl darin versammelt hat, geht es um Taschendiebstahl und Tiertod, um Mobbing, Geldphobie und Kriegsverletzungen. Es droht somit allerlei Chaos, psychisch, physisch, weltanschaulich. Wes Andersons Ordungszwang wird alles wieder gut machen.