James Bond Schauspieler Daniel Craig bei der Film-Premiere

James Bond auf der Suche nach der verlorenen Zeit

In „No Time to Die“, dem 25. Film der Serie, wird dem Retro-Spionage-Abenteuer neue Empfindsamkeit injiziert – und ein Diversity-Update verpasst.

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In gewisser Weise ist ja alles Erdenkliche nur eine Frage der Zeit, unter anderem das Leben selbst. Wer Mutmaßungen zum Verhältnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft anstellt, blickt dem Dasein (und der eigenen Existenz) ins kalte Auge. Und das Thema ist so ambivalent wie subjektiv: Entweder hat man alle Zeit der Welt – oder nicht einmal die Zeit zu sterben. Louis Armstrong sang schon im sechsten James-Bond-Film, in „On Her Majesty’s Secret Service“ („Im Geheimdienst Ihrer Majestät“), dem 1969 veröffentlichten Zwischenspiel von George Lazenby als 007, den Song „We Have All the Time in the World“. Dieses Lied taucht nun auch in „No Time to Die“ („Keine Zeit zu sterben“) wieder auf, gesungen, instrumentalisiert und mehrfach rezitiert.

Cary Joji Fukunaga, der erste Amerikaner, der am bald 70 Jahre alten Mythos des unverwüstlichen britischen Geheimagenten inszenatorisch schrauben darf, wähnte sich offenbar selbst im Besitz aller Zeit der Welt. Unerhörte 163 Minuten nimmt seine Bond-Variation in Anspruch, und sie ist stark melancholisch geraten, denn sie ist eine Verabschiedung: Daniel Craig, der bereits nach seiner vierten Performance als James Bond gemeint hatte, er öffne sich lieber die Pulsadern, als noch einmal den Retro-Geheimagenten zu spielen, hatte sich jedoch durch eine in Aussicht gestellte Gage von (kolportierten) 50 Millionen Pfund ein letztes Mal bereit erklärt, als Bond herzuhalten. „No Time to Die“, gedreht bereits 2019, veröffentlicht nun pandemiebedingt um gut anderthalb Jahre zu spät, ist der offiziell 25. Film der Bond-Serie, wenn es auch etliche Kino- und Fernseharbeiten gibt, die in der kanonischen Liste aus rechtlichen oder geschmacklichen Erwägungen keine Aufnahme gefunden haben, etwa das „Thunderball“-Remake „Never Say Never Again“ (1983) mit Sean Connery oder die Bond-Persiflage „Casino Royale“ (1967).

Fukunaga legt seine Regie geradezu über-ikonisch an: jede Szene ein Verweis auf das größere Bond-Universum, jedes Bild ein Selbstzitat, das in aller Regel zurück in die 1960er-Jahre führen kann – die populärkulturelle Erinnerungsarbeit läuft auf Hochtouren. „No Time to Die“ ist ein Pastiche, in dem Schicht um Schicht an Bond-Historie (Blofeld und Spectre, Q, Moneypenny, Hi-Tech-Automobile, Weltherrschaftsfantasien) verquirlt wird, zu einer Art Spionage-Gröstl verkocht, zur Action-Ratatouille verarbeitet wird: Craig durchschreitet wie stets kühl jeden MG-Kugelhagel, ohne je getroffen zu werden, erlegt seinerseits aber mit jedem Schuss drei Gegner. Man merkt allerdings, dass Fukunaga keine echte Action-Expertise besitzt, seine Autoverschrottungs- und Einzelkampf-Choreografien muten da und dort doch etwas schwerfälliger an, als man das in einem James-Bond-Movie gerne hätte.

Die üblichen touristisch relevanten Locations werden wie gewohnt genutzt, die prachtvolle süditalienische Kleinstadt Matera etwa, aber auch Norwegens Eiswelten und Jamaicas Idyllen sowie ein im Studio (und auf Jamaica) gut gefälschtes Kuba. Das neue Bond-Abenteuer will aber zudem ein Produkt seiner Zeit sein, eine Ahnung von den geänderten Moralvorstellungen der Gegenwart vermitteln: Diversity wird groß geschrieben hier, die Bond-Girls von einst sind zu Kriegerinnen gereift, die dem alten weißen Schlachtross durchaus ebenbürtig sind, und die schwarze Schauspielerin Lashana Lynch wird gar als weiblicher 007 ins Spiel gebracht. Auf das Konto der jungen englischen Komikerin und Autorin Phoebe Waller-Bridge, die man eingeladen hat, am Drehbuch mitzuarbeiten, gehen vermutlich viele dieser Nachschärfungen. Rami Malek gibt einen sehr typischen Bond-Schurken, einen Superterroristen mit hochtechnoider Massenvernichtungslust, das Gesicht gespenstisch versehrt wie auch jenes von Christoph Waltz, der als Blofeld einen immerhin hübschen Gastauftritt absolviert.

Daniel Craig wankt als alternde Legende durch den Film, getrieben von den Zumutungen der Zeit: Schon der Name seiner von Léa Seydoux leicht sediert dargestellten Liebsten, Madeleine Swann (kann man eine Figur noch vordergründiger literarisch beladen?), verweist recht dreist auf Marcel Prousts Erinnerungsarbeit in dem Romanzyklus „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ (1913–27). Am Ende passt die Idee der schmerzlich verlorenen Zeit in doppelter Hinsicht perfekt zu diesem Film: Bond träumt sich verquält in die vergebenen Chancen seines Daseins zurück – und als Kinobesucher kann man dies gut nachfühlen, denn eine gewisse Lebenszeit hat man mit „No Time to Die“ auch vergeudet.

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.