Beer, Metallbrille und graues Beanie auf dem Kopf, ist keiner, der gern mit dem Zeigefinger spricht. Als Architekt fielen ihm zur großen Weihnachtsverhüttelung noch ganz andere Bemerkungen ein, er belässt es aber bei kühler Analyse und vorübergehendem Staunen: über Punschbühnendekor und Idylleninszenierung. Über die nostalgisch eingefärbte Kulisse der Erinnerung an ein Weihnachten, wie es früher einmal war, oder zumindest gewesen sein könnte. Über den monetarisierten XXL-Eskapismus. Über das genuine Adventmarkt-Phänomen: Kennt man einen, kennt man alle.
„Weihnachten ist im Reigen der Konsumfeste konkurrenzlos“, stellte der Wiener Philosophieprofessor Konrad Paul Liessmann einst fest. Da in vielen Menschen immer noch das Gefühl vorhanden sei, dass es sich bei Weihnachten um ein religiöses Fest mit tiefgründiger Bedeutung handle, wolle man diesem Empfinden so oder so Ausdruck verleihen: „Nach dem Kaufrausch im durchgestylten Shoppingcenter geht es dann auf den urigen, traditionellen Weihnachtsmarkt, wo diese religiösen Gefühle wiederum durch Konsum ausgedrückt werden.“ Vielleicht ist das sentimental und kitschig, aber wem wollte man vorweihnachtliche Sentimentalität und Lust am Kitsch vorwerfen.
Erste Station: Wiener Karlsplatz
Am Karlsplatz ein unregelmäßiges Gewürfel von Kleinstgebäuden. Viel Holzgeschnitztes und Handbemaltes: „Krautnudeln mit Speck“, „Hauspunsch – Apfelpunsch – Beerenpunsch“, „Zum Bert“. Heuer feiert der „Art Advent“ im Schatten von Johann Bernhard Fischer von Erlachs Barockkirche sein 30-jähriges Jubiläum. Es gibt ein „Himmelszelt“ und eine „Sternenwerkstatt“, eine Strohlandschaft und einen Draisinen-Express, dazu Rustikal-Holzbauten in allen Farben und Formen. Nach 30 Jahren pendeln sich die Dinge ein.
„Zeitgenössische Architektur kommt hier eher nicht vor“, sagt Beer. Der klassische Adventmarkt braucht die Dunkelheit wie andere den Tag, er lebt vom Kontrast. „Optisch und praktisch funktionieren diese Märkte am besten, wenn es dunkel und kalt ist. Im Idealfall schneit es sogar. Untertags sind die verstreuten Hütten auf den großen Plätzen meist ein eher trauriger Anblick.“
Die Schwärze der Nacht legt sich gnädig über die Einraumhäuschen. Die Zweckbauten verschwinden im Dunkel, übrig bleiben grell bis anheimelnd beleuchtete Verkaufsschauräume, eingerahmt von Lametta, Tannengrün und Lichterketten. „Großzügige urbane Plätze verwandeln sich in kleine Dörfer mit schmalen Gassen“, sagt Beer. Es ist eng und manchmal laut, es riecht nach Glühwein und Süßem, Zahnarztpraxislicht mischt sich mit warmen Farben. Die temporären Kleindörfer erobern mit rustikalem Kitsch die Stadt, gern vor historischer Kulisse: Karlskirche, Rathaus, MuseumsQuartier. „Vieles erinnert an alpine Chalet-Dörfer, an Après-Ski-Spaß und Hüttengaudi.“
Weihnachtsmärkte sind Ballungsräume erweiterter Ambivalenzen. Während sich die einen am grellbunten Geblinke berauschen, denken andere an Lichtverschmutzung. Kinder betreten die Glitzerwelt mit Herzklopfen und Lachen im Gesicht, Erwachsene tendenziell mit verschärftem Alkoholverlangen. Aus Sicht eines Punschliebhabers ist die Weihnachtsmarktzeit eine auf Wochen ausgedehnte Party. Wenn es einen Ort gibt, der zugleich unbändige Freude und Fluchtreflexe auslösen kann, dann dieser.
Zwischenstation: Rathausplatz
Der Rathausplatz an einem Novemberabend. Die Menge drängt sich, dicht an dicht. Viele Touristen, der Abend der tausend Selfies. Es ist nahezu unmöglich, nicht mitfotografiert zu werden. Ein Kind greint, es wolle noch nicht nach Hause. Das Greinen geht geschmeidig in Plärren über. Die rot-weiß-rote Jacke eines Besuchers verkündet am Rücken in großen Buchstaben „Österreich“, darunter ein Bundesadler, groß wie ein Plattencover, ein leicht illuminiertes Federtier. Ein Stofftierverkäufer, der in seltsamer Mischung aus Brüchigkeit und Wärme spricht, preist einem älteren Paar seinen Lieblingsbären an. Im Bärenleben, so der Mann hinter dem Verkaufsstand, könne nicht mehr viel passieren, weil Bärchen eine überstülpbare Mütze habe. Einer am Punschstand sagt als Erstes, er sitze auf dem Trockenen, ordert als Zweites eine weitere Warmgetränkerunde, und ist drittens gleich beim Zuprosten. Eins, zwei, drei im Saufeschritt. Das Interessante am Feierrausch gen Jahresende jenseits sämtlicher Architekturfragen ist die Parallelität der unterschiedlichen Emotionen.
„Die zeitgenössische Holzbauarchitektur hat den Weihnachtsmarkt beim Rathaus noch nicht erreicht“, konstatiert Beer trocken. Die wiederkehrende Baugrundform? „Schuppen, einfache Hütten und Einraumhäuschen mit dominanten Satteldächern: Zweckbauten mit berüschter, platzseitiger Fassadenfront, rückseitig oft unattraktiv, weil sich hier Stromverteiler, Kabelstränge, Müllsäcke finden.“ Mit einem Wort: „Kulissenarchitektur, deren Schauseite mit Tannengrün und Glitzerlampen aufgehübscht wird.“ Dazu Überladungen von Christbaumschmuck auf steil in den Winterhimmel ragenden Bäumen. Adolf Loos, um auch diese Frage noch zu klären, stünde wohl starr vor Schreck im Rathauspark als Miniatur-Disneyland. Wien will ein bisschen New York spielen, ohne New York zu sein.
„Meine Perle“ und „Tussi“ gehören im Bereich der Lebkuchenherzen-Beschriftung zu den Standards, auf einer Höhe mit „Herzensmensch“ und „Nudlaug“. Weihnachtsmarkt, das ist immer auch die große Gleichzeitigkeit von Klamauk und Kitsch, Kommerz und Kindertraum, Konsum und Komatrinken.
Vieles am Rathausplatz erzählt Episoden aus einer Zeit, die es alle Jahre nur von Mitte November bis Ende Dezember gibt, aus einer Stadt, die sich allzu gern in ein Märchenland verwandelt. Es ist nicht ganz ohne Ironie, dass der Wiener Bürgermeister von seinem Amtssitz aus wie der kleine Winterkönig auf ein Potemkinsches Dorf des Bling-Bling-Weihnachtszaubers blicken darf.
Ende der Reise: Wiener MuseumsQuartier
Kein „Driving Home for Christmas“ aus den Lautsprechern im MuseumsQuartier, dafür Downbeat. „Irgendjemand hat hier einen Bauplan gezeichnet“, sagt Beer mit Hinweis auf die sechs lose auf dem Zentralplatz verstreuten Gastro-Stände: „Es tut nicht weh.“ Weihnachten wird hier cool und dezent gefeiert. Der Schriftzug „Das Normal ist irr“ strahlt in weißer Leuchtschrift von den Fassaden. Beer deutet auf zusammengeschraubte Holzlatten in Weihnachtsbaumform: „Architekturweihnachtsbäume“. Man sei, lacht er, endlich wieder in der Stadt angekommen. Das war’s für heuer mit den Märkten.