Oscar-Kandidaten: Zwei Trickfilm-Glanzstücke brechen mit Genre-Klischees
Ein Messie-Mädchen und ein postapokalyptisches Kätzchen kämpfen ums Überleben: Zwei extravagante neue Animationsfilme könnten bei der Oscar-Gala Anfang März für Überraschungen sorgen. Ein Gedankenaustausch mit den Schöpfern von „Flow“ und „Memoir of Snail“.
Trickfilme im Kino, darunter mag man sich vor allem bunte Unterhaltung für kleine und größere Kinder vorstellen; man assoziiert die Abenteuer von Bambi, Pinocchio und Schneewittchen, denkt an „Toy Story“, „Shrek“ und „Finding Nemo“ oder an die Traditionsunternehmen Disney, Pixar und DreamWorks – und vielleicht hat man ja noch die fröhlichen Songs im Ohr, die Mufasa, der fotorealistisch animierte „König der Löwen“, erst unlängst im Kino angestimmt hat. In großen Animationsfilmen können Tiere, Dinge und – siehe „Inside Out“ – sogar Gefühle sprechen, tanzen, musizieren und witzeln, die Stimmung ist ausgelassen, und Altersbarrieren werden über doppelte Böden und mehrdeutige Dialoge strategisch eingerissen: Menschen zwischen sechs und 106 Jahren sollen sich hier bitte gleichermaßen amüsieren können, danke für Ihren Beitrag an der Kinokasse.
So funktionieren Trickfilme, sofern sie aus dem Inneren der amerikanischen Entertainment-Industrie stammen. Aber außerhalb dieses Gravitationszentrums haben sich längst starke alternative Formen gebildet, werden international wirksame Animationsfilme produziert, die auf Risiko spielen, Ernstes verhandeln und ungeahnte Erzählmittel einsetzen. Der hochbetagte Japaner Hayao Miyazaki, der erst 2023 mit einer neuen seiner surrealen Anime-Produktionen („Der Junge und der Reiher") verblüffte, ist da nur das prominenteste Beispiel. Wenn in den frühen Morgenstunden des 3. März 2025 in Hollywood, von desaströsen Bränden schwer angeschlagen, wieder die Oscars vergeben werden, wird man unter den Nominierten zwei außerordentliche Animationsfilme finden, die sich allen Klischeezuschreibungen verweigern.
Knetmasse, Karton, Draht und Farbe
Der eine, in Österreichs Kinos ab sofort zu besichtigen, heißt „Memoir of a Snail“, erdacht und inszeniert von dem Australier Adam Elliot („Mary & Max“, 2009). Als introvertierte, opferbereite Person hält seine einsame Heldin sich für eine Art Schnecke, ihre Memoiren drehen sich um Verlust und Trauma, um Missbrauch und das Messie-Syndrom. „This film was made by human beings“ steht im Nachspann vermerkt – und zwar ganz altmodisch. Denn Elliots Technik nennt sich „Claymation“ – eine Form der Stop-Motion-Animation, bei der alle Kulissen und Figuren aus Knetmasse, Karton, Draht und Farbe hergestellt werden, Bild für Bild, ganz ohne Computer-Interventionen. Auch Regiestars wie Guillermo del Toro („Pinocchio"), Wes Anderson („Isle of Dogs") und Nick Park („Wallace & Gromit“) arbeiten zuweilen auf diesem Gebiet.
Der junge lettische Filmemacher Gints Zilbalodis dagegen benutzt lieber 3D-Grafikprogramme, aber auch er hat Unorthodoxes im Sinn: Sein Film, den er „Flow“ genannt hat (Untertitel: „Wie die Katze ihre Angst vor dem Wasser verlor", Austro-Kinostart: 7. Februar), macht seit Monaten international Furore mit einer mitreißenden Inszenierung, die eine kleine, im Wald lebende Katze mit einer großen Flut konfrontiert, die ihre Welt jäh zu zerstören droht. Das Tier rettet sich auf ein vorbeitreibendes Boot, das bald auch von anderen, von einem Wasserschwein, einem Lemur und einem Golden Retriever, bevölkert wird. Während sie langsam durch menschenleere alte Städte segelt, muss diese Schicksalsgemeinschaft lernen, das gegenseitige Misstrauen zu bewältigen – und zu kooperieren.
Der Clou dieses – den Miyazaki’schen Natur- und Existenzschönheiten nicht ganz unähnlichen – Films ist simpel, im Kino aber selten: Die auftretenden Tiere werden nicht vermenschlicht, sie bleiben, was sie sind, agieren ihrer jeweiligen Spezies entsprechend. „Flow“ hat somit, wie bereits Zilbalodis’ Debüt (die Inselgeschichte „Away“, 2019), keine Dialoge, nur äußerst realistisch klingende und handelnde Charaktere.
„Ich wollte mich durch nicht-sprachliche Instrumente ausdrücken“, sagt Zilbalodis im profil-Interview: „durch Musik, Sound, Kamera, Licht.“ So ist „Flow“ alles andere als ein Stummfilm, denn die Tiere besitzen Stimmen, die ganz dokumentarisch, etwa im Zoo, aufgenommen wurden. Nur mit dem Capybara, dem Wasserschwein, habe man sich, gesteht der Regisseur, ein paar künstlerische Freiheiten erlauben müssen. Denn diese „klingen anders, als man erwarten würde: Sie haben sehr hohe Stimmen, die zu der so ruhigen, friedlichen Filmfigur nicht gepasst hätten.“ Also gab man dem Capybara die Stimme eines Babykamels. „Fiktion ist eben manchmal glaubhafter als die Wirklichkeit“, fügt Zilbalodis trocken an.
„Wir interpretierten diese Tiere", sagt er. „Jede Geste ist de facto aus dem Leben gegriffen, denn wir wollten, dass sich all das real und rund anfühlt. Das macht die Story emotionaler und intensiver, denn gingen die Tiere auf zwei Beine und erzählten Witze, würden wir uns nicht so sehr für diese Charaktere interessieren. Die tierische Unschuld bindet uns an sie. Wir haben sprechende Tiere im Kino so oft gesehen; ,Flow' hat so viel Resonanz erzeugt, weil er hervorsticht, einzigartig ist. Echte Tiere sind so interessant, so lustig und profund, dass es gar nicht nötig ist, sie zu vermenschlichen.“
Gleich zwei Oscar-Nominierungen für „Flow“
Sowohl „Memoir of a Snail“ als auch „Flow“ waren für Golden Globes nominiert, Zilbalodis entschied das Rennen vor drei Wochen für sich. Für den Trickfilm-Oscar sind nun wieder beide Werke nominiert, „Flow“ zudem in der Kategorie „Bester Internationaler Film“. Fünf Jahre lang hat Zilbalodis daran gearbeitet – erstmals mit einem Team. Denn dieses Projekt, hergestellt mit der offenen Software „Blender“, war viel größer konzipiert als „Away“: mehr Charaktere, eine dichtere Erzählung, die am und im – schwierig zu animierenden – Wasser angesiedelt ist. Die Produktion war entschieden low budget: Etwa ein Fünfzigstel des Etats gängiger US-Animationsfilme habe sein Film gekostet.
Die Sintflut-Variation „Flow“ hat, bei allem Bemühen um ökologisches Bewusstsein, einen mysteriösen Kern: Die offenbar postapokalyptische, aber völlig intakte Welt dieses Films ist zeitlich nicht zuzuordnen, das Boot streift durch überschwemmte Tempelanlagen und an Kultstätten vorbei, weder Menschen noch industrielle Relikte tauchen auf. Zilbalodis erklärt dies so: „Es ist nicht wirklich unsere Welt, sie ist nur inspiriert von Schauplätzen in Südostasien, Mittelamerika, Nepal, Tibet, auch Europa. Wir wollten da unseren eigenen Kosmos erschaffen, ohne Wolkenkratzer, Autos und Mobiltelefone.“
Zoom-Call mit Adam Elliot, der eine selbst gemachte Mini-Skulptur fröhlich in die Kamera hält: Gracie, seine triste Protagonistin mit dem Fühlerhut, stehe ihm in all seinen Interviews bei. 15 Jahre liegen zwischen seinem Erstling „Mary & Max“ und „Memoir of a Snail“: Es habe ein paar zeitraubende Faktoren gegeben, die Pandemie etwa – und den Tod seines Vaters, der auch dazu geführt habe, dass er sich um seine Mutter kümmern musste. „Um mit einem Film überhaupt beginnen zu können, benötige ich ein erhöhtes Maß an Frustration, sogar Wut. Ich brauche etwas, das mich aufregt und triggert. Wenn ich dann ein Thema habe, werde ich neugierig, fast obsessiv.“ Sein Vater sei „sammelwütig“ gewesen, erzählt Elliot, „eigentlich ein Messie. Er hinterließ so viel Zeug, und mein Ärger auf ihn wuchs, als ich mich da durcharbeitete: Warum musste er das alles sammeln? Warum musste er überhaupt sterben?“
Dabei sei Elliots Interesse geweckt worden: Wie und warum wird man zum Messie? Er begann zu recherchieren. Mit einem Kernteam von gut 30 Menschen erarbeitete Elliot den mit seltsamen Gags, Inserts und Zitaten dicht gespickten Film. „An manchen Tagen wünschte ich, ich hätte einen Film über einen Minimalisten verfasst. Das wäre sehr viel einfacher gewesen. Und ich habe die strenge Regel, niemals digitale Tricktechniken zu benützen. Sogar Feuer und Rauch stellten wir aus gelbem Papier und Watte her.“
Die Leute, mit denen Elliot seine Filme macht, seien „eine große Familie, mit der man mehr Zeit verbringt als mit seiner eigenen. Die Arbeitstage sind lang, man absolviert mindestens 50 Wochenstunden. Man muss also Leute finden, die auch soziale Skills haben, was gar nicht so einfach ist, denn die meisten Animatoren sind naturgemäß eher einzelgängerisch. Bedienerfreundliche Trickfilmer sind rar. Wir hatten Glück, mussten niemanden feuern. Es war im Gegenteil sogar schwierig, die Leute am Ende des Tages heimzuschicken, weil alle sich in diese Arbeit verliebt hatten.“
Bittersüßes Leben
Elliott nennt seine speziellen Erzählungen „Clayographies“, weil er aus dem „bittersüßen Leben seiner Familie und Freunde“ schöpfe. „Memoir of a Snail“ richtet sich explizit an Erwachsene: Es geht um Sex, Tod, Einsamkeit, Depression und Katastrophe. Ihm selbst erschien sein Film manchmal fast schon zu finster. „Ich gehe wirklich grausam gegen meine arme Heldin vor, bereite ihr Schmerzen und Leiden. Wir arbeiteten also stark daran, komische Gegengewichte und ein dringend nötiges Happyend einzuziehen.“
Persönlich nimmt auch Gints Zilbalodis sein Schaffen: Ähnlich wie die Katze in seinem „Flow“-Zirkus habe er selbst erst mit diesem Film herausgefunden, wie es sei, mit anderen zusammenzuarbeiten, nicht alles allein zu machen. Und Selbstreflexion steckt auch in „Memoirs of a Snail“: Elliots Heldin möchte tatsächlich Stop-Motion-Animatorin werden. „Ich wollte diesen Film so dicht wie möglich gestalten, um ihn auch der Erfahrung des Anhäufens von Dingen im eigenen Wohnraum nahezubringen", sagt Adam Elliot. „Er sollte von Anfang an auch klaustrophobisch sein: eine fast körperliche Erfahrung der Überfüllung. Zugleich aber versuchten mein Editor und ich da eine Balance zu finden, um den Film nicht völlig überfordernd erscheinen zu lassen. Man kann ihn gut zwei- oder dreimal sehen, um all das zu erleben, was man beim ersten Mal verpasst hat. Mir ist schon klar, dass auch das wieder frustrierend wirken könnte.“ Aber das Risiko geht er ein.
In gewisser Weise sei er zum Stil seiner ersten drei Kurzfilme zurückgekehrt, die er in den 1990er-Jahren inszenierte. „In Mary & Max wurde mir die Ästhetik schon zu raffiniert." Heute gebe es übrigens viele Stop-Motion-Filme, die so präzise und sauber gearbeitet seien, „dass sie aussehen, als wären sie im Computer entstanden“, sagt Elliot. „Warum dann aber überhaupt diese langwierige manuelle Animationsverfahren? Ich wollte es wieder krude, textural, taktil. Also gab ich neue Regeln vor: Fingerabdrücke sollten auf der Knetmasse sichtbar bleiben, alles musste handgepinselt werden. Ich wollte diesen asymmetrischen Look, dem man die menschliche Berührung ansehen kann.“
1996, als Elliot die Filmschule beendet hatte, erklärte man ihm, dass er an einer sterbenden Kunstform arbeite, dass Stop-Motion von Computeranimation umgebracht werden würde. „Aber das Gegenteil ist eingetreten, eine Renaissance angebrochen. Besonders junge Leute lieben Stop-Motion. Wir versinken in einem Ozean digitalen Contents und künstlicher Intelligenz (KI), da wirkt Stop-Motion erfrischend.“ KI-Filme fühlten sich synthetisch an, am Ende seien sie, sagt Elliott noch, „nur creepy.“ Er verwende übrigens, wenn er sein Metier erklären will, gern das Sinnbild eines Korbs. „Natürlich können Maschinen Körbe schnell und billig herstellen, aber dem Charme eines handgeflochtenen Korbs werden sie qualitativ nie nahekommen können.“
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Stefan Grissemann
leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.