THE LOST DAUGHTER (L to R): OLIVIA COLMAN as LEDA, DAKOTA JOHNSON as NINA.

Oscars: Tradition verpflichtet? Eskapismus statt Flächenbrand?

Die an diesem Wochenende in Hollywood stattfindende Oscar-Gala muss ihre Existenzberechtigung heuer in mehr als nur einer Hinsicht beweisen.

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Es erscheint durchaus ein wenig absurd, die traditionelle Vergabe einer Handvoll vergoldeter Statuetten an internationale Filmprominenz wie geplant abzuhalten, obwohl in der Ukraine seit bald fünf Wochen ein mörderischer Angriffskrieg wütet, der die Welt verstört. Wer braucht, um Himmels willen, jetzt die Oscars? Wird man dort so tun, als wäre nichts, ein paar Witzchen auf Kosten anwesender Superstars reißen? Um nur nicht vom Naheliegenden zu sprechen? Die Entscheidung für den Eskapismus wirft die Frage auf, ob die in ihrer Strahlkraft ohnehin bereits seit Jahren stark eingeschränkte Show wirklich unter allen Umständen weitergehen muss.

Man kann die Tendenz dieser Frage natürlich auch umdrehen: Wem würde es nützen, die Academy-Award-Zeremonie abzusagen? Den Opfern des Krieges wohl nicht; und ist es nicht seit jeher vor allem die Kunst, die uns soziale und politische Zusammenhänge anders, nämlich über den Weg der geistigen Anregung, über Kreativität und Humanismus verständlich machen kann? Andererseits: Die Gala mit dem angeschlagenen Glamour zu canceln hätte auch Bewusstsein schaffen können für eine Zeit, in der Hollywoods Entertainment zur Abwechslung Pause hat – und demonstriert, dass man sich solidarisch zeigt mit all jenen, deren Leben von Hochglanzdramen und Dinnerpartys gerade Lichtjahre entfernt ist.

Es ist müßig, über solche Fragen zu spekulieren, denn in den frühen Morgenstunden des 28. März mitteleuropäischer Zeit wird die diesjährige Oscar-Gala im Dolby Theatre am Hollywood Boulevard in Los Angeles, so oder so (und trotz allem) wieder über die Bühne gehen – zum 94. Mal bereits seit der ersten Veranstaltung dieser Art am 16. Mai 1929. Und am Ende kann nur die Form darüber entscheiden, die diese Show annehmen wird, ob die Academy Awards sich als satisfaktionsfähig in einer Zeit der globalen Krise erweisen werden, ob die Themen und Tonfälle, die man anschlagen will – gerade über die Filme, die als preiswürdig in den Raum gestellt wurden –, dazu geeignet sind, dem Druck zu begegnen, der nun auch auf dieser Veranstaltung liegt.

Die Pandemie allein hatte – im Zusammenspiel mit dem Siegeszug des Film-Streaming – im vergangenen Jahr schon ausgereicht, um die Oscar-Nacht in ein historisches Publikumstief zu schleudern. 10,4 Millionen Zuschauer, nur noch rund drei Prozent der US-Bevölkerung, schalteten sich 2021 zu, um die Übertragung zu erleben; 2020 waren es weit über 23 Millionen Menschen gewesen, die ihr live beiwohnten, in den 1990er-Jahren nicht selten bis zu 50 Millionen. Der TV-Sender ABC lukriert dennoch (und auch heuer wieder) aus der Gala zuverlässig astronomische Werbeeinnahmen; ein 30-sekündiger Spot zur besten Oscar-Sendezeit schlägt dem Vernehmen nach bereits mit über 2,2 Millionen Dollar zu Buche. So viel zur Motivation und zum anhaltenden Interesse der Fernsehbosse an diesem so vielfach geschmähten Ereignis. Die Komödiantin Amy Schumer, die von profil-Gesellschaftschefin Angelika Hager auch ab Seite  44 dieser Ausgabe gewürdigt wird, soll den Abend an der Seite ihrer Kollegin Wanda Sykes und der Schauspielerin Regina Hall moderieren: ein schlagkräftiges, auch politisch korrektes Conférencièren-Team, selbstbewusst, weiblich und mehrheitlich schwarz. 

Von der Tragödie des Krieges erzählen manche der heuer zur Auswahl stehenden Filme nur über die Bande, von der giftigen Wirkung überzogener Männlichkeit etwa Jane Campions psychologisch raffinierter, keineswegs traditioneller Western „The Power of the Dog“; er ist mit zwölf Nominierungen der Favorit des Abends. Die Neuseeländerin hat schon im Vorfeld Oscar-Geschichte geschrieben – als erste Frau, die mehr als einmal in der Kategorie „Beste Regie“ nominiert wurde. Ihr Film, der klug Machismo, Misogynie und queerness verhandelt, konfrontiert einen fragilen jungen Mann (Kodi Smit McPhee) mit einem Rancher (Benedict Cumberbatch), der sich den – bereits auslaufenden – Ideen des Faustrechts und der Rücksichtslosigkeit verschrieben hat. Das vierköpfige Ensemble im Zentrum des Films, das von Kirsten Dunst und Jesse Plemons ergänzt wird, greift geschlossen nach den Oscars.

Zehnfach nominiert geht Denis Villeneuves grafisch exquisites, intergalaktisches Abenteuer „Dune“ ins Rennen, wird aber vermutlich primär in den technischen Kategorien reüssieren können. „West Side Story“, Steven Spielbergs erstaunlich treues, also allzu nostalgisches Remake eines Musicals, bewegt sich wie Kenneth Branaghs nordirische Kindheitserzählung „Belfast“ in die 1960er-Jahre zurück, beide Filme treten für je sieben Oscars an.

Die wegweisenden US-Filme dieses Jahres finden sich, wenn sie überhaupt vertreten sind, in der zweiten Linie: Je drei Nominierungen verbuchen Paul Thomas Andersons unberechenbare Seventies-Comedy „Licorice Pizza“, Maggie Gyllenhaals eigenwilliges Charakterdrama „The Lost Daughter“ (mit einer überragenden Olivia Colman, deren untrüglicher Sinn für gute Parts mit ihrer schauspielerischen Virtuosität Schritt hält) sowie Joel Coens sehr präzise stilisierte Shakespeare-Adaption „Macbeth“, die – neben dem Antritt des großen Denzel Washington als möglicher bester Hauptdarsteller – hier lediglich für visuelle Perfektion (Kamera und Produktionsdesign) gewürdigt wird. Rezente Kassenerfolge wie „Spider-Man: No Way Home“ oder das jüngste James-Bond-Abenteuer („No Time to Die“) wurden in den Nominierungslisten zu Randerscheinungen degradiert.

Zwei fernab der angloamerikanischen Filmindustrien entstandene Produktionen sorgten schon im Vorfeld für Aufsehen: Eine norwegische Liebestragikomödie mit dem schönen Titel „The Worst Person in the World“ wurde immerhin zweimal nominiert. Der in Dänemark geborene, in Norwegen aufgewachsene Regisseur und Autor Joachim Trier, 48, betreibt in diesem Film, erstaunlich unterhaltsam, Seelenforschungsarbeit. Er berichtet in zwölf Kapiteln von der Selbstfindung und dem Beziehungsleben einer unsteten jungen Frau (Reinsve), verwandelt dabei „alltägliches“ Erzählmaterial in kluges, mitreißendes, stilistisch sprunghaftes Kino, in eine bewusst skizzenhafte „romantic dramedy“. 

Und ein Film aus Japan hat das Zeug dazu, die Show 2022 zu kapern: Für gleich vier Oscars in den allerwichtigsten Kategorien steht Ryūsuke Hamaguchis „Drive My Car“ bereit, nicht nur als „Best International Feature Film“, sondern auch in der Königsklasse „Bester Film“, in den Abteilungen Regie und Drehbuch. Die Vielzahl der Nominierungen verdeutlicht die hervorgehobene Position von „Drive My Car“, eines Films, der heuer etwas Ähnliches zuwege bringen könnte wie der 2020 mit vier Oscars prämierte koreanische Arthouse-Blockbuster „Parasite“.

Im Fach „Beste Nebendarstellerin“ ist übrigens eine verpasste Chance zu beklagen: Rita Moreno, die  erst die alte und nun auch die neue „West Side Story“ überstrahlte, wurde übergangen. Sie wäre mit ihren inzwischen 90 Lebensjahren die älteste je für einen Oscar nominierte Person gewesen. Next time.

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.