„Palatschinken“: Warum uns der Gaumen am besten kennt
Es könnte auch die Geschichte eines vergnüglichen Roadtrips im Spätsommer sein: Ein Paar macht sich auf eine ausgedehnte Reise, die von Neapel über Palermo und Triest bis in die kroatische Hafenstadt Rijeka führt. Sie, eine junge Fotografin, hält das Abenteuer bildlich fest. Er, erfolgreicher Illustrator, zeichnet kleine Geschichten der Tour in sein Notizbuch. Das Paar streitet sich hin und wieder, trifft Verwandte, genießt das Meer und das gute Essen.
Doch der vermeintliche Trip ist in Wahrheit die Suche nach der eigenen Herkunft. Davon berichtet die Graphic Novel „Palatschinken“. Im Dezember 1950 verließ Caterina Sansones Mutter Elena als Achtjährige ihre Heimatstadt Rijeka. Als Angehörige der italienischen Minderheit in Jugoslawien musste die Familie das Land verlassen und lebte die nächsten zwölf Jahre in Flüchtlingslagern. Ein halbes Jahrhundert später bereiste Sansone mit ihrem Partner, dem Illustrator Alessandro Tota, von Neapel aus die Fluchtroute, um diese frühen Jahre im Exil nachzuzeichnen.
Prinzessin im Flüchtlingslager
„Meine Mutter war damals ein Kind und hat die Zeit in den Lagern auch als Abenteuer erlebt“, erzählt Sansone im Gespräch mit profil. Wenn die Familie auf alten Bildern im Flüchtlingslager im Park von Capodimonte in Neapel posiert, könnte sie auch gerade einen gemütlichen Wochenendausflug genießen. „Als wir den Park besuchten, war ich erstaunt, wie schön das Anwesen ist. Es war für mich schwer vorstellbar, dass meine Familie hier mehr als ein Jahrzehnt in einer kleinen Baracke verbracht hat“, so die 34-Jährige. So etwas wie Alltag gab es auch im Flüchtlingslager: Im Fasching verkleidete sich die zwölfjährige Elena als Prinzessin, im folgenden Sommer heiratete ihre Schwester einen anderen Flüchtling, wenig später starb Elenas Vater.
Der Blick zurück, die physische Auseinandersetzung mit den Orten der Familiengeschichte geben der jungen Frau keine Auskunft darüber, wie ihr eigenes Leben verlaufen ist.
Stilistisch verbindet „Palatschinken“ alte Aufnahmen und Dokumente mit aktuellen Fotos und Reiseillustrationen. Ausführliche Gespräche mit der Mutter dienten Sansone und Tota als Orientierungshilfe. Der Leser wird mit dieser Mischung jedoch alleine gelassen. Es entsteht der Eindruck, als habe das Künstlerpaar das gesammelte Material in eine Dose geworfen und einmal ordentlich durchgeschüttelt. Der losen Verbindung fehlt das Narrativ, der politische Kontext wird nur kurz berührt. Der Anspruch, ein europäisches Schicksal im 20. Jahrhundert zu erzählen, scheint zu hoch gegriffen. Doch gerade diese Unvollständigkeit ist die Stärke der Geschichte – und steht damit exemplarisch für zahlreiche andere Fluchterfahrungen. „Ich habe auf eine Art Erkenntnis gehofft, aber die kam nicht“, sagt Sansone, mittlerweile in Rijeka eingetroffen, am Ende der Expedition.
Der Blick zurück, die physische Auseinandersetzung mit den Orten der Familiengeschichte geben der jungen Frau keine Auskunft darüber, wie ihr eigenes Leben verlaufen ist. „Das Leben lässt sich nur rückwärts verstehen, leben müssen wir es aber vorwärts.“ Das gern in Stammbücher geschriebene Zitat des dänischen Philosophen Sören Kierkegaard klingt zwar gut, trifft aber nicht zu. Die eigene Identität ist auch rückblickend nur ein konstruiertes Narrativ loser Ereignisse.
Von Sansones Spurensuche im Exil bleibt letztlich jedoch keine geistige Erkenntnis, sondern eine kulinarische Erfahrung.
Die fehlende Erkenntnis auf der Reise ist auch der Grund, warum Sansones aktuelle Fotos von den Fluchtorten ihrer Mutter menschenleer sind. „Ich hatte das Gefühl, dass Stille und Leere die Erinnerung an die Menschen, die einst diese Orte bewohnten, besser beleben können.“ Ein eklatanter Gegensatz zur Lebendigkeit der alten Aufnahmen. Die Zeichnungen ihres Partners Tota hingegen erinnern dann doch noch an die humoristischen Erfahrungen des Trips. „Ich wollte einen leichten Zugang zu einem ernsten Thema finden. Der Stil der Illustrationen hat mit der tragikomischen italienischen Filmsprache zu tun“, so der 33-Jährige.
Der Gaumen weiß Bescheid
Rund 250.000 Italienerinnen und Italiener mussten nach dem Zweiten Weltkrieg die Region um die ehemalige k. u. k. Hafenstadt Rijeka verlassen – offiziell wegen der Nichtannahme der jugoslawischen Staatsbürgerschaft. Dass Sansones Mutter, deren Familie sich nicht politisch betätigte, unter ihnen war, mag man als Schicksal bezeichnen. Oder, weniger bedeutungsschwanger, als simplen Zufall. Und dieser Zufall ist an keine Region oder Epoche gebunden. Angesprochen auf die gegenwärtige Flüchtlingssituation in Europa, meint die mittlerweile in Paris lebende Künstlerin, „Palatschinken“ sei für sie auch ein Versuch, „die Menschen daran zu erinnern, dass einst wir Europäer die Geflüchteten waren“.
Von Sansones Spurensuche im Exil bleibt letztlich jedoch keine geistige Erkenntnis, sondern eine kulinarische Erfahrung. Kurz vor ihrem Abflug aus Rijeka gönnt sich die Fotografin eine Portion Palatschinken und beendet ihre Reise – in Erinnerung an die Kochkünste ihrer Mutter – mit den Worten: „Die schmecken genauso wie in meiner Kindheit.“ Vielleicht weiß der Gaumen immer noch am besten über unsere Identitäten Bescheid.