Kultur

Katze und Christuskind

Patti Smith hat Instagram für sich entdeckt. Im "Buch der Tage" lässt sich ein Jahr in Bildern mit der New Yorker Musikerin und Dichterin erleben. Inklusive Kurzauftritten von Elfriede Jelinek und Kaiserin Sisi.

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Attribute verengen auf Dauer die Sicht. Seit Jahr und Tag wird Patti Smith die "Patin des Punk" genannt. Ist Neil Young etwa der Onkel der Singer-Songwriter-Szene? Dolly Parton die Cousine der Countrymusik? Eben. Smith dagegen ist für alle Zeiten als Punk-Patin festgeschrieben-auch wenn ihr Kokettieren mit übersteuertem Gitarrenverstärker und Reibeisenstimme in die graue Musikhistorie zurückreicht. Jene Ära, in der die heute 75-Jährige mit der Patti Smith Group ihre Verwandtschaft zum Punk begründete, liegt mehr als ein halbes Jahrhundert zurück. "Piss Factory" und "Hey Joe" hießen die frühen Singles der Patti Smith Group, denen 1975 der Albumklassiker "Horses" folgte. "Because The Night", gemeinsam mit Bruce Springsteen geschrieben, fand sich bald darauf in den Hitparaden.

Die Sklavin einer Sparte ist Smith bis heute nicht, sie hat in ihrem Leben wenig ausgelassen. Performance, Gesang, Dichtung, Malerei und Fotografie: So ließen sich die Kunstfelder umreißen, auf denen Smith seit Jahrzehnten mit großem Ernst und sympathischer Bockigkeit unterwegs ist. Ein weiterer Bogen lässt sich kaum schlagen. Dazu ein Privatleben, das selten privat blieb: Die Beziehung zum Fotografen Robert Mapplethorpe findet sich auf ikonografischen Bildserien dokumentiert. Die Erinnerung an den 1989 verstorbenen Künstler bescherte Smith 2010 mit "Just Kids" ihren bislang größten Bucherfolg. "Buch der Tage" versammelt nun 365 Instagram-Posts von Smith, die seit 2018 unter dem Usernamen thisispattismith auf der Plattform angemeldet ist: Handyfotos, Zeichnungen, abfotografierte Polaroids, kalendarisch geordnet, aber ohne Jahreszahlen. Eine Reise in Pattis Welt mit fünf Fotos aus "Buch der Tage". 

Instagram-Post vom 30. Dezember

Smith in Concert! Eines ihrer ersten nach der Pandemie, als auch Smith, wie sie in "Buch der Tage" notiert, "allein in meinem Zimmer saß". Smith füllt Hallen, sichtbare Hochstimmung auf der Bühne und beim Publikum. Bekannt ist Smith für ihre Polaroid-Aufnahmen. Neues zu versuchen, das ist die Grundidee, auf der ihr Schreiben und Fotografieren fußt. Am 20. März 2018 postete Smith ihren ersten Instagram-Eintrag. Als Eintrittsgruß wählte sie ein Foto ihrer eigenen Hand. Fortan versah sie jedes Posting mit ein paar Worten, oft genug nur orakelhaften Satzbruchstücken, die in "Buch der Tage" dokumentiert sind. So auch zum Jahreswechsel: "Frohes neues Jahr, euch allen! Wir sind gemeinsam lebendig." 
 

Post vom 25. Dezember

Zurück in die Vergangenheit. Unter das Foto vom Mädchen unter dem Weihnachtsbaum fügt Smith die Erinnerung hinzu: "Mein erstes Weihnachten, Chicago 1947. Am Nachmittag lief ich zum ersten Mal durch die Küche, angespornt von meiner Mutter, die mich mit einem neuen Spielzeugkaninchen lockte." Es sind die kleinen Dinge, die Smith auf vielen Seiten im "Buch der Tage" euphorisieren: die Lesebrille, das Buchregal neben dem Bett, die Schutzengelstatue am Eingang des Berliner Dorotheenstädtischen Friedhofs, die ausgelatschten Cowboystiefel, das Holzvogelhaus im Garten. "Es ist nicht so leicht, über nichts zu schreiben", notiert Smith in ihrem 2015 erschienenen Erinnerungsbuch "M Train". Es ist auch nicht so leicht, nichts zu fotografieren. 

Post vom 8. Dezember

Die Frau im schwarz-roten Abendkleid ist Smiths Tochter Jesse, die als Künstlerin, Musikerin und Komponistin in New York lebt und arbeitet. "Jesse im Abendkleid im Opernmuseum der Scala. Meine Maria", notiert Patti Smith. "Buch der Tage" ist auch eine Hommage an Smiths Künstlerfreunde und -freundinnen, an verstorbene Poeten und deren Hinterlassenschaften, darunter ein Foto von Hermann Hesses Schreibmaschine und der Filzanzug von Joseph Beuys an der Wand einer Zürcher Galerie. Lang ist die Liste der Namen, die im "Buch der Tage" erwähnt werden: Marcel Proust, Susan Sontag, Sam Shepard, Franz Kafka, Elvis Presley, Goethe, Marlen Haushofer. Der Post vom 24. Oktober zeigt Smith gemeinsam mit dem 2010 verstorbenen Autor und Aktionisten Christoph Schlingensief, umrandet von einem Elfriede-Jelinek-Zitat: "Ich dachte immer, so jemand kann nicht sterben. Das ist, als ob das Leben selbst gestorben wäre." 

Post vom 24. Dezember

Auch die Fotos von Patti Smith sind zuweilen einfach nur: Fotos. Das Alexander-McQueen-T-Shirt, der heilige Franziskus in der Küche, Hauskatze Cairo, der Kleiderbügel in einem Pariser Hotel, eine Jungziege, die weiße Tasse mit Kitschblumenmuster und "Mama"-Aufschrift, das Kaiserin-Sisi-Ölbild("Ich bewunderte ihr Kleid")oder eben das Plastik-Jesuskind in der Bücherecke: nichts Neues unter der Sonne, schon gar nicht in den endlosen Instagram-Weiten, die täglich mit bis zu 100 Millionen neuen Bilder geflutet werden. Oft genug trifft Smith mit ihrer Allerweltsfotografie freilich den Nagel auf den Kopf: Am 24. Juni entdeckt sie eine "Robert-Walser-Gasse". Jeden 9. August begeht sie den Todestag des Greatful-Dead-Bandleaders Jerry Garcia. Das Bild dazu: Smiths Lieblingssessel mit Jerry-Garcia-Porträt-Decke, die wie ein Handtuch aussieht. 

Post vom 9. Dezember

"Pause", notiert Smith unter das Patti-Smith-Porträt in kontrastreichem Schwarzweiß: "Ich denke über Puccinis Tosca nach, die Lieblingszeile einer Arie: 'Ich lebte für die Kunst, ich lebte für die Liebe." Die großen Fragen schrumpfen bei Smith bisweilen auf kurze Augenblicke zusammen, eingefangen von den obligatorischen Kameraaugen, die Smith seit Jahrzehnten begleiten. Auf YouTube ist ein magischer Moment aus dem Jahr 2016 archiviert: Bob Dylan erhielt den Literaturnobelpreis, Smith sollte ihm zu Ehren in Stockholm singen-und hatte mitten in "A Hard Rain's A-Gonna Fall" einen Aussetzer. Schöner scheitern ist kaum möglich. 

Patti Smith: Buch der Tage.

Aus dem Englischen von Brigitte Jakobeit. Kiepenheuer& Witsch. 399 S.,EUR 32,90

Wolfgang Paterno

Wolfgang Paterno

ist seit 2005 profil-Redakteur.