Literatur

Paul Austers famoses Porträt eines halben Mannes

Der New Yorker, 76, ist seit knapp einem Jahr an Krebs erkrankt. Sein neuer Roman „Baumgartner“ ist ein quicklebendiges Alterswerk.

Drucken

Schriftgröße

Zum Auftakt setzt es für Seymour Baumgartner kleine und große Niederlagen. Im Leben des 71-Jährigen häufen sich schmerzhafte Missgeschicke und Slapstick-Pannen: Die UPS-Fahrerin Molly, deretwegen sich der emeritierte Phänomenologe aus Princeton sinnlos Buch um Buch via Versandhandel zuschicken lässt, agiert bei der Paketübergabe an der Haustür, als würde sie ihn nicht mehr kennen. Später stürzt Baumgartner die Kellertreppe hinunter und verschrammt sich Gesicht und Füße. Insgesamt läuft es für Baumgartner, den so tölpelhaften wie einnehmenden Helden in Paul Austers neuem Roman „Baumgartner“, darauf hinaus, dass manchmal nichts schwerer zu ertragen ist als eine Reihe schlechter Tage. Am Ende wird bittere Bilanz gezogen: 411 Päckchen in zehn Jahren, geliefert von der reizenden Molly, Baumgartners UPS-Lichtgestalt, und noch immer keine Liebe in Sicht.

Mann in Flammen

Wohl auch deshalb, weil „Baumgartner“ ein Buch beständiger, leiser Trauer ist: Baumgartners Ehefrau Anna starb zehn Jahre zuvor beim Schwimmen durch eine „Monsterwelle“, seitdem laboriert er am „Phantomschmerz-Syndrom“: „Er ist ein menschlicher Stumpf, ein halber Mann, der die Hälfte seiner selbst, die ihn zu einem Ganzen machte, verloren hat, und ja, die fehlenden Gliedmaßen sind noch da, und sie tun immer noch weh, so weh, dass er manchmal das Gefühl hat, sein Körper sei drauf und dran, in Flammen aufzugehen und ihn zu verschlingen.“ Auster inszeniert seinen Roman als Lebensabschnittsstück eines verbitterten Mannes, der sich dem Publikum auf offener Bühne freimütig als Idiot, Feigling, alter Knacker, als schmerzgepeinigter, „verblödeter Trottel“ zeigt: Die hohe Kunst der Selbstbeschimpfung ist in diesem Roman – durchaus außergewöhnlich für Austers Verhältnisse – Programm. Im Umgang mit seinen Mitmenschen gibt sich Baumgartner ebenfalls nicht unnötig skrupulös, schwankt zwischen rhetorischem Haudrauf und Eiseskälte. Der unerbittliche Erforscher der empirischen Erscheinungen, der sein Leben der Sphäre des konkret Fassbaren gewidmet hat, sieht nach Annas Unfalltod sein Dasein in tausend Stücke zersplittern, bringt zehn leere Jahre hinter sich. La maladie d’amour. Ein halber Mann, eingetaucht in dunkles Gefühlsgebräu. Ein Abschiedsbuch, von Auster in exzellenter Kühle erzählt, und das alles andere als unlustig.

Im März gab Austers Ehefrau, die Schriftstellerin Siri Hustvedt, auf Instagram bekannt: „Bei meinem Mann wurde im Dezember Krebs diagnostiziert, nachdem er schon mehrere Monate zuvor krank war.“ Sie lebe seitdem an einem Ort, den sie „Krebsland“ nenne. Insofern erzählt „Baumgartner“ eine Geschichte, die vielleicht nicht ganz nach Zufall klingt.

Auf seine Weise schreibt Auster seit Jahrzehnten an einem einzigen großen Buch, worin sich wiederkehrende Fragen und Themen finden: Familie, Künstlertum, Fiktion und Realität, Liebe und noch größere Liebe. Die Schwärmerei über Schreibmaschinengeklapper und Am-Schreibtisch-Sitzen (und wie dabei das Leben hoffnungslos dazwischenfunkt),

die Magie von Notizbüchern und Manuskriptstapeln: Das ist Paul Austers Kunst seit seinem ersten Roman „Stadt aus Glas“ (1985), Teil eins der sogenannten New-York-Trilogie. Austers Bücher sind ein ziemlich einzigartiges Zeugnis eines jahrzehntelangen Schreibens.

Orkus des Nichts

In „Baumgartner“ ist Auster auch als so unermüdlicher wie hintersinniger Literaturpropagandist zu erleben: Baumgartner lebt und arbeitet in der Poe Road, seine verunglückte Ehefrau trug als Mädchen den Namen Anna Blume. 1919 schrieb der Dichter Kurt Schwitters seinen Hymnus „An Anna Blume“: „O du, Geliebte meiner siebenundzwanzig Sinne, ich liebe / dir! Du deiner dich dir, ich dir, du mir. – Wir?“ Der Princeton-Phänomenologe verfasst eine Kurzgeschichte im Geiste von Kafkas Torhüterlegende. Seinen Seymour Baumgartner entwirft der Autor schließlich als hinreißende Intellektuellen-Karikatur, als späten Pnin-Nachfahr, Vladimir Nabokovs schrulligen Russisch-Professor. Baumgartner ist einer jener bemerkenswerten Männer auf Erden, der über die Gabe verfügt, zugleich Frohsinn und Tristesse zu versprühen, wohin er auch kommt.

Vieles in „Baumgarten“ erinnert an die Qualität großer Literatur: ein Erzählen, das die Vergangenheit mit der Gegenwart miteinander in Berührung bringt, das heitere Spiel mit Leben, Trauer und Tod, das nur im Ausnahmefall in Schwarzweiß ausgekleidet erscheint: „Nach dem Tod geschieht Folgendes: Du kommst in das Große Nirgendwo, das ist ein schwarzer Raum, in dem nichts zu sehen ist, ein geräuschloses Vakuum der Nullität, der Orkus des Nichts.“

Wolfgang   Paterno

Wolfgang Paterno

ist seit 2005 profil-Redakteur.