Paula Nocker, 27,
debütierte an der Josefstadt in der Rolle der Lucy in Torsten Fischers Inszenierung von Brechts „Dreigroschenoper“ während der Pandemie-Zeit. Die Tochter des Schauspielerpaars Maria Happel und Dirk Nocker arbeitete nach ihrer Matura auf der Wiener „Walz“ auch als Platzanweiserin im Burgtheater, ehe sie selbst den Schritt auf die Bühne wagte. Für ihre Lucy wurde Nocker mit dem Nestroy-Preis für den „besten Nachwuchs“ gekürt. Zurzeit steht sie in mehreren Produktionen auf den Brettern der Josefstadt und wird im Sommer bei den Festspielen Reichenau die Rolle der Annie in „Anatol“ spielen.
Sie sind 27 Jahre alt, Paula, stehen schon seit ein paar Jahren auf der Bühne. In der NDR-Dokumentation klagten viele Schauspielerinnen über Machtmissbrauch und sexuelle Übergriffe in ganz jungen Jahren.
Nocker
Mir selbst ist so etwas noch nie widerfahren.
Was auch daran liegen kann, dass Sie die Tochter der bekannten Theaterschauspielerin Maria Happel sind. Möglicherweise ist da ein junges Mädchen, das frisch von der Schauspielschule kommt, ohne einen solchen Hintergrund ungeschützter.
Nocker
Das ist gut möglich. Aber ich kann es nicht ändern. Ich komme nun einmal aus einer Theaterfamilie. Meine Eltern sind beide Schauspieler (Anm. Vater Dirk Nocker), wobei ich sagen würde, die Jüngste in unserer Familie, meine Schwester Annemarie, ist die bei Weitem erwachsenste von uns allen. Als ich noch kleiner war, sagte ich immer zu meinen Freunden: „Meine Eltern sind eigentlich Jugendliche, die sind überhaupt nicht erwachsen.“ Die Schauspielerei ist tatsächlich eine gute Möglichkeit, um das Erwachsenwerden aufzuhalten.
Herr Schwab, Ihr langjähriger Hausregisseur Claus Peymann ging sogar so weit, zu behaupten, dass exzellente Schauspieler einen gewissen Grad an Dummheit mit sich bringen müssen.
Schwab
Das lasse ich nicht gelten. Was für ein dummes Geschwätz! Naiv würde ich sagen; Naivität mit Dummheit gleichzusetzen, ist per se schon eine große Dummheit. Aber sich, um Max Reinhardt zu zitieren, seine Kindheit in die Tasche zu stecken und damit davonzulaufen, kann da durchaus helfen.
Peymann soll einmal eine Souffleuse, die eine rote Hose trug, angebrüllt haben, dass sie sich umziehen möge, weil ihn die Farbe beim Proben störe. Sind Sie da dazwischengegangen?
Schwab
Da war ich nicht dabei. Peymann war sowieso immer der Ansicht, dass zu viel gute Stimmung auf den Proben Anlass zur Skepsis geben und sich auf den Qualitätsgrad der Kunst auswirken könne. Er gehört auch zu jener Regie-Spezies, die lange nicht loslassen kann. Er verbeißt sich bis zum Schluss. Was den Arbeiten nicht immer guttut. An dieser Stelle muss man auch hinzufügen, dass Proben ganz intime Prozesse sind. Um sich für eine Figur zu öffnen, gibt man dort manchmal Dinge von sich preis, die man nicht einmal seinen besten Freunden erzählen würde. Eigentlich geht es niemanden in der Außenwelt etwas an, was auf Proben passiert, solange es sich nicht im strafrechtlichen Bereich bewegt. Es sollte ein Geheimnis bleiben. Rollen auszubrüten, ist ja wie eine Art Schwangerschaft. Manchmal kommt eine Totgeburt dabei heraus, manchmal aber auch ein ganz tolles Kind.
Nocker
Es stellt sich natürlich die Frage: Wo beginnt Missbrauch eigentlich? Man sollte dabei nicht vergessen, dass unterschiedliche Menschen auch unterschiedliche Sensibilitätsgrade besitzen, welche Verhaltensweisen sie tatsächlich als Missbrauch, Kränkungen oder Verletzungen empfinden.
Martin Schwab, 86
Der gebürtige Deutsche kam in der Ära Peymann 1987 nach Wien, erlebte die wilden Zeiten dort hautnah und ist seither fixes Ensemblemitglied des Burgtheaters. Der Nestroy-Preisträger und Kainz-Medaillen-Besitzer gehörte nie zu den lauten Knattermimen des Hauses, zeigte sich stets als verlässlicher Menschenbildner, der die Glaubwürdigkeit und Authentizität seiner Figuren über künstlerische Exzentrik stellte. Schwab, Vater zweier Söhne, ist zudem Lehrer am Max Reinhardt Seminar; er erwies sich, egal in welcher Lebensphase, als besonders aufgeschlossen gegenüber (damals) neuen und auch riskanten Dramatiker:innen wie Peter Turrini, Elfriede Jelinek und Thomas Bernhard.
Und wo setzen Sie da in Ihrem Empfinden an?
Nocker
Ich habe tatsächlich nichts gegen ein raues Klima bei der Arbeit. Ich mag auch die Ostsee. Aber die Kommunikation sollte, auch wenn es manchmal laut und vielleicht unangenehm wird, immer von Respekt getragen sein. Am Ende sollte man sich noch immer die Hände schütteln können.
Schwab
„Gehabte Schmerzen, die habe ich gern“, sagte Wilhelm Busch. Zorn, Schmerz, Enttäuschung, alle erdenklichen Emotionen, begleiten auch so einen Probenprozess. Aber natürlich muss es immer einen geben, der die ganze Angelegenheit leitet. Theater ist nun einmal keine demokratische Veranstaltung.
Der Theatertitan Peter Zadek soll seine Stars wie Angela Winkler manchmal absichtlich zum Weinen gebracht und das mit folgenden Worten begründet haben: „Du bist einfach besser, wenn du gebrochen bist.“
Nocker
Ich denke, dass die Ära solcher Methoden nun wirklich endgültig vorbei ist.
Schwab
Zadek sagte nach der Premiere auch manchmal so etwas wie: „Das hab ich zwar überhaupt nicht inszeniert, aber du hast das ganz wunderbar gemacht.“
Unter Freischaffenden schwingen immer Existenzängste mit und bedingen auch, dass der Widerstand gegenüber Machtmissbrauchstätern zögerlicher ist als in Festanstellungen.
Nocker
Natürlich reisen solche Ängste immer mit.
Schwab
Ich kenn dich ja, Paula, schon als du noch gar nicht geboren warst. Aber deine Mutter hatte sie sicherlich auch, ehe Maria zu der Maria wurde, die wir heute kennen. Existenzängste habe ich mit meinen bald 87 Jahren Gott sei Dank nicht mehr. Hatte ich eigentlich auch nie. Das ist ja das Beruhigende, wenn man Ensemblemitglied in einem Staatstheater ist. Es kann einem überhaupt nichts passieren. Nicht so wie in den USA, wo ein Stück nach vernichtenden Kritiken sehr bald wieder abgesetzt wird.
Zwischen Ihnen beiden liegen nahezu 60 Jahre. Was, Paula, lernt man von Martin Schwab?
Nocker
Neugierig, offen, freundlich und an allem Neuen interessiert zu bleiben. Da ist der Martin ein solches Vorbild.
Schwab
Siehst du, da mag ich unsere Branche. Wenn du Sparkassendirektor bist, kriegst du so etwas von deiner Kassiererin wahrscheinlich nicht zu hören.
Alters-Bashing mussten Sie nie erleben?
Schwab
Nein, tatsächlich nie. Die wären doch blöd, wenn sie auf mich verzichteten. Das klingt jetzt furchtbar eitel, ist aber nicht so gemeint. Als der Geheimrat Goethe von einem Boten darüber informiert wurde, dass sein Sohn gestorben war, rief er nur aus: „Ich wusste, dass ich einen Sterblichen gezeugt habe.“ Dann widmete er sich wieder seiner Arbeit. Ich werde weitermachen, solange ich nicht völlig verblödet bin. Wenn ich einmal den Fuß in die Tür gesetzt habe, bringt man mich dort nicht mehr so leicht raus.
Was für einen Rat geben Sie einer jungen Schauspielerin wie Paula mit, deren Karriere gerade im Abheben ist, Herr Schwab?
Schwab
Erfolg lässt sich nicht packen. Ich habe mich nie um eine Rolle bemüht, bin nie um Regisseure herumgeschwänzelt, um etwas zu bekommen. Wie heißt doch dieses Sprichwort? Ach ja: „Lieben und singen lässt sich nicht zwingen.“ Und man braucht ein kräftiges Lebens-Standbein.
Nocker
Oh ja, ohne meine Familie, in der ich so behütet aufgewachsen bin, wäre vieles nicht so leicht zu verkraften.
Schwab
So ein Leben, das so gar nichts mit dem Theater zu tun hat, lässt einen auch lebendig bleiben.
„Die Möwe“ von Anton Tschechow
Regisseur Torsten Fischer reanimiert derzeit eine Produktion der Festspiele Reichenau im Theater an der Josefstadt (Premiere: 28. März in den Kammerspielen der Josefstadt). Sorin, den in Hedonimusreue schwelgenden Bruder der Arkadina, spielt Martin Schwab. Paula Nocker ist Nina, die schwärmerische junge Schauspielerin, deren Hoffnungen an der rauen Realität Moskaus zerschellen sollen; Nils Arztmann gibt den jungen Sturm-und-Drang-Dramatiker. Sandra Cervik spielt die exzentrische Arkardina, Claudius von Stolzmann den saturierten Trigorin. Tschechow, klar, poetisch und werkgetreu.