Kulturtipp

Gegen unsichtbare Mauern: preisgekröntes Kinodrama aus Indien

Payal Kapadia ist Indiens derzeit bedeutendste Filmkünstlerin, eine politisch hellwache Alltagspoetin. Stefan Grissemann hat sie zu „All We Imagine as Light“, ihrem brillanten neuen Werk befragt.

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Drei Frauen, beschäftigt in einem Krankenhaus in Mumbai, stehen im Zentrum dieses Films: drei ganz alltägliche, hinduistisch vorgeprägte Existenzen mit je eigener Unglücksbiografie. Eine dieser Protagonistinnen ist Ende 30, sie leidet unter der Einsamkeit, seit ihr Mann in Deutschland arbeitet und sich kaum noch meldet. Mit einer rund zehn Jahre Jüngeren, die wie sie als Krankenschwester arbeitet und mit ihrem muslimischen Freund eine aussichtslose, weil verbotene Liebesbeziehung ohne Rückzugsort führt, bewohnt sie ein beengtes Apartment. Und die Spitalsköchin, mit der beide befreundet sind, kämpft als mittellose Witwe gegen ihre Delogierung, wird bereits von Schlägertrupps bedroht. 

Die Regisseurin und Autorin Payal Kapadia, geboren 1986 in Mumbai, beleuchtet in ihrem stillen, lyrisch inszenierten Drama „All We Imagine As Light“ drei der 28 Millionen Schicksale in der Metropole an der indischen Westküste. In Cannes wurde sie dafür vor einem guten halben Jahr mit dem Grand Prix, einer der höchsten Auszeichnungen des Festivals bedacht. Ab übermorgen wird der Film in ausgewählten österreichischen Programmkinos zu sehen sein – mit den besten Empfehlungen. 

Seit zehn Jahren macht Kapadia Filme, ihre erste abendfüllende Produktion, den Dokumentarfilm „A Night of Knowing Nothing“, legte sie 2021 vor. „All We Imagine as Light“ nun wagt den Sprung in die Fiktion, mit entschiedener Rückbindung allerdings an ein beobachtendes, realistisches Kino. Die Erzählung beginnt mit einer Fahrt entlang eines Nachtmarkts in Mumbai, durch das Gedränge der Menschenmassen, dazu dokumentarische Ich-Erzählungen aus dem Off über Armut, Arbeit und Zuwanderung.

Zunächst habe sie eine ganz simple Story zweier Frauen im Kopf gehabt, berichtet Payal Kapadia im Gespräch mit profil: „eine Geschichte von den Begehrenslagen und Beziehungen zweier sehr verschiedener Frauen, die einander mit unterschwelligem Neid betrachten, auch bewerten und sanft manipulieren.“ In einem Spital lernte Kapadia Krankenschwestern kennen und fand, dass dies „wohl der allerbeste Ort für meine mise-en-scène“ sei – ein Schauplatz, an dem sie all ihre Lieblingsthemen besprechen könne: Frauen, Verhütung und Macht beispielsweise.

Klasse und Kaste

Mit den weiteren Figuren, die sie erdachte, weitete sich das Panorama indischer Problemfelder: „All We Imagine as Light“ erzählt von Landflucht, Klassismus und Kastensystem, von erzwungenen Ehen, fehlenden Privilegien und sozialem Gefälle. In der Großstadt werden überall Wolkenkratzer hochgezogen, aber die Armen haben kaum Lebensraum. Hauchzart, fast versunken setzt Kapadia das alles ins Szene, punktuell erhellt von den jazzigen, verträumt vor sich hin perlenden Kompositionen der äthiopischen Pianistin und Nonne Emahoy Tsegué-Maryam Guèbrou. Kapadias Film ist in hohem Maß ein outdoor movie, gedreht in den Straßen Mumbais und der offenen Natur der Küstengebiete.
Der Film, ähnlich introvertiert wie seine Protagonistinnen, sollte „indirekter“ wirken als ihr offensiv-experimentelles Debüt, sagt Kapadia: Die leise Romanze, um die „All We Imagine as Light“ auch kreist, sollte das Publikum „verführen“, um den Raum für „all die politischen Aspekte zu öffnen“, die ihr vorschwebten. Sie habe etwa „die internalisierte Moral“ thematisieren wollen, „die in so vielen Frauen steckt und letztlich leider frauenfeindlich ist. Ich befrage da auch meine eigene Moral – die Art, wie ich oft automatisch über Frauen anderer Generationen denke oder urteile. In Indien ist so viel Moralismus spürbar, mit dem man umzugehen hat.“ Die Fragen, die sie an sich selbst und die Welt stelle, in der sie lebe, seien stets ihre Ausgangspunkte. „Mein Wunsch, Kino zu machen, basiert auf einer starken Selbstreflexion. Ich könnte keine Filme inszenieren zu Themen, denen ich mich persönlich nicht verbunden fühle.“

Weibliches Sehen und Denken

Mit dem Begriff des Feminismus hadert Kapadia ein wenig. „Geschlechtergleichheit ist doch die Grundvoraussetzung. In diesem Sinn ist Feminismus natürlich ein Teil der klassenpolitischen Debatten. Ich sehe meinen Film aber weniger als ein feministisches, eher als ein feminines Werk.“ In einem Medium, das traditionellerweise den männlichen Blick privilegiere, sei weibliches Sehen und Denken vielleicht schon eine produktive Grenzüberschreitung.

Das Dokumentarische und das Fiktionale sind bei Kapadia kaum zu unterscheiden. „Ich liebe es, Dokumentarisches so zu behandeln, als wäre es fiktional – und umgekehrt.“ Das hybride Kino etwa von Miguel Gomes, Apichatpong Weerasethakul und Omer Fast habe sie, als „große Cinephile“, akribisch studiert. Letztlich sei alles im Kino Fiktion; wenn man eine Kamera aufstelle, erfinde man eine Welt. „Nehmen Sie einen frühen Dokumentarfilm wie Robert Flahertys ,Nanook of the North’ von 1922, wir wissen ja, wie manipulativ der entstand. Eine entscheidende Grundlage des Kinos ist eben seine Subjektivität.“ 

Payal Kapadias Mutter, die renommierte Medienkünstlerin Nalini Malani, übte einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf sie aus. „Ich wuchs mit VHS-Bildern auf, die ständig bearbeitet wurden, ich lernte, was Einstellungen sind, was Schuss und Gegenschuss bedeuten, und so wollte ich zunächst Cutterin werden. Was ich aber von meiner Mutter am meisten lernte: Für sie war alles hochinteressant, alles kostbar, auch und gerade die geringsten Dinge und Alltagsphänomene. Als bei uns in der Küche einmal ein Rohr brach, zeigte sie mir fasziniert die Regenbogenfarben im Wasser.“

Konkurrenz aus Bollywood

Als indisch-europäische Koproduktion entstand „All We Imagine as Light“. Rein indisch finanziert hätte dieser unabhängige Film wohl nicht entstehen können. Die kommerzielle Filmindustrie des Landes, die Studios und Konzerne sind an Kapadias Kino nicht interessiert. Der Preis in Cannes vor ein paar Monaten habe ihr schon geholfen, vor allem beim Vertrieb. „Es wurde weltweit viel über meinen Film geschrieben. In Indien aber stehe ich in Konkurrenz mit superteuren Kinospektakeln. Immerhin läuft mein Film dort nun auf 150 Leinwänden, zwei Wochen lang. Aber mein Heimatland, in dem das Kino billig und populär ist, hat fast 1,5 Milliarden Menschen! Üblicherweise werden Independentfilme bloß in irgendwelchen Vormittagsschienen in abgelegenen Programmkinos, die kaum jemand aufsucht, gezeigt. Und dann wird argumentiert, dass sich angeblich niemand für diese Filme interessiere.“

Tatsächlich ist Indiens Kinoszene stark regionalisiert: Das tamilische Kino folgt ganz anderen Regeln als die Hindi-Bollywood-Filme, unterscheidet sich auch stark von Werken, die in Sprachen wie Malayalam oder Telugu gedreht werden. „Filmsprache und Schauspiel sind von Bundesstaat zu Bundesstaat verschieden, Overacting und Kitsch aber überall sehr populär. Meinen Naturalismus versteht man im Westen besser, glaube ich.“

Utopie gegen den Hass

Kapadias Film, so behutsam er wirkt, gilt in Indiens konservativen Kreisen als durchaus anstößig. „Ich kriege viele Hassbotschaften“, erzählt die Regisseurin noch, „weil ich Liebesverhältnisse so nicht zeigen dürfe oder weil ich Indien angeblich in ein schlechtes Licht rücke.“ Ihre politischen Absichten sind in „All We Imagine as Light“ sehr präsent: „Die Intersektion von Klasse, Kaste und Religion ist Teil unseres Alltags. Die Familie gilt als Verbreiter deiner Kaste, und Frauen sollen sie erhalten. Um die Kaste, der man sich traditionell verhaftet fühlt, niemals zu verlieren, gibt es arrangierte Ehen. Dagegen wollte ich einen utopischen Film setzen, in dem es ein entspanntes Zusammensein und Frauenfreundschaften geben sollte, die sich über Vorschriften und Identitäten hinwegsetzen. Familien sind stark kodiert, Freundschaften sind offene Verhältnisse. Wenn in meinem Film eine junge hinduistische Frau ihren muslimischen Liebhaber, den ihre Familie niemals akzeptieren wird, ihrer Freundin vorstellt, dann ist das schon revolutionär. Religion sollte in der Liebe keine Rolle spielen. In Wirklichkeit könnte dem jungen Paar, das ich zeige, jederzeit etwas Schreckliches zustoßen. In Indien herrscht leider eine uralte Kultur der Gewalt. Paare, die sich über Kaste oder Religion hinwegsetzen, werden oft geächtet und verprügelt.“ 

Am Ende ziehen die drei Frauen sich für ein paar Tage in ein Dorf an der Küste zurück, sitzen im Dunkel der hereingebrochenen Nacht im Gastgarten eines bunt geschmückten Lokals, fernab des Molochs, aus dem sie kommen. Die junge Frau hat ihren Freund mitgebracht, hier ist das endlich möglich. Die Träume und Sehnsüchte dieser Menschen sind bedroht, stoßen gegen unsichtbare Mauern, aber sie zerbrechen daran nicht, niemals. 

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.