Peter Handke und das Ticken der Welt

Der Schriftsteller Peter Handke gehört zu den wenigen Größen der Gegenwartsliteratur, die zu Lebzeiten mit einer Gesamtausgabe ihrer Prosa, Gedichte, Theaterstücke und Journale geehrt werden. Wolfgang Paterno über seine 30 Jahre als Handke-Leser.

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(Anmerkung: Am 10. Oktober 2019 wurde von der schwedischen Akademie bekanntgegeben, dass Peter Handke mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wird. Folgender Text von Wolfgang Paterno über seine 30 Jahre als Handke-Leser ist im Oktober 2018 erschienen).

Die Sache mit Handke begann mit einem Schurkenstück. Die Sache? Schurkenstück? Was soll die Fragerei? Wer Handke liest, dem sind Welt- und Selbstbefragung vertraut, das geschwungene Satzzeichen mit Punkt untenrum irrlichtert durch viele Texte des Kärntners, der seit Jahrzehnten in einem Pariser Vorort lebt. Nicht jede Frage schreit bei Handke nach einer Antwort. Aber jede Antwort löst neue Fragen aus.

Die „Sache“? Soweit ich mich zurückerinnern kann, war mir nie klar, welches Wort meine, tja, innige Affinität zu dem Autor träfe, die seit immerhin 30 Jahren währt. Macht der Gewohnheit? Augen- und Ohrenöffnen? Fantum? Gar Zuneigung? Das „deutlich empfundene Gefühl, jemanden, etwas zu mögen, gernzuhaben“, wie das Lexikon über letzteres Stichwort schreibt.

Auf dem Weg zum unnahbaren Kauz ist Handke weit gekommen: Ihro Gnaden Genie!

Weitgehend geklärt scheinen zwei Fragen. Im Nachdenken und Schreiben über Handkes Schreiben darf es persönlich und vertraulich werden, manchmal bis zum Abwinken, es kann durchaus ins Salbungsvolle kippen, ohne gleich im Dunkelschacht der Banalität zu landen. Wie intensiv und häufig man Handke auch lesen mag, man wird, zweitens, von der Prosa-Eisprinzessin nahe Paris nie zurückgeliebt. Handke bleibt der Mönch auf dem Kunstberg, hemdsärmelig und gemein mit seinen Lesern hat er es sich nie gemacht. Auf dem Weg zum unnahbaren Kauz ist Handke weit gekommen: Ihro Gnaden Genie! Den 75-Jährigen dürfte die bloße Vorstellung schaudern machen, er sei ein Erzähler zum Angreifen und, in jedem Sinne, Begreifen. Er würde entrüstet den Kopf mit der ewigen Beatnik-Frisur schütteln. Schlaglichter auf die Sache mit Handke, der ein Diebstahl zugrunde liegt.

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Ein Schurkenstück also, Sommer 1988, einschneidendes Datum für den Schüler jener Zeit. Damals fand die Taschenbuchausgabe von „Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms“, mein erstes Handke-Buch überhaupt, unrechtmäßig seinen Weg aus der Arbeiterkammerbibliothek ins Elternhaus. Man muss, auf die Gefahr hin, wie ein sentimentaler Tepp zu tönen, auf der Reise in die Vergangenheit kurz ausholen. Vielleicht war es die hellblaue Farbe des Einbands, womöglich das Foto darauf, ein Jüngling mit schütterem Schnurrbart, schulterlangem Haar, eulenhafter Brille, das den Buchraub motivierte. Möglicherweise war es auch der Versuch, sich als Sohn aus heiler Vorarlberger Kleinhäuslerfamilie ein Minidelikt lang als Westentaschenganove aufspielen zu können. Der Name Handke war damals schon als eine Art Komisches-Kauz-Synonym in das Dorf in nächster Nähe zum Bodensee vorgedrungen. Wer, wie in Vorarlberg bis heute üblich, seine Zeit aber mit schaffa, schaffa zubrachte, hatte für Poesieparadiesvögel außer raumdröhnendem Gelächter und polternder Geringschätzung wenig über. Allein für mich war der Besitz eines hellblauen Suhrkamp-Bändchens die signalhafte Beglaubigung geistigen Revoluzzertums. Richtige Kerle hatten das lächerliche Bücherzeug nicht notwendig. Lesen war eine Randsportart, und Handke war der Coach.

Die Handke-Bücher von profil-Autor Wolfgang Paterno

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Mit Handke als Wegbegleiter konnte man, einerseits, das genaue, sinnliche Lesen lernen. Andererseits war der Autor dem Jugendlichen im fast bücherlosen Elternhaus Lektüreweltenöffner. Man wuchtete, wenn überhaupt, aufgeschlagene Bände von Karl May oder Agatha Christie vor dem Schlafengehen auf die Daunendecke. Der Roman „Ich suche den Menschen“ der Heimatdichterin Natalie Beer stand neben der Kriminalgeschichtensammlung „Der neue Pitaval“ in einem Buchregal, das diesen Namen nicht verdiente.

Man liest Handke, um sich später zu erinnern, wie es war zu der Zeit, als man Handke las.

Handke erwähnte in seinen Büchern zahllose Autorinnen und Autoren, allesamt Namen wie von einem anderen Stern. Bald stapelten sich die Bücher von Patricia Highsmith, George Simenon, William Faulkner, Walker Percy, Gustave Flaubert, Adalbert Stifter, Robert Walser, Franz Kafka, Karl Philipp Moritz, Alain Robbe-Grillet, Hermann Lenz, Nicolas Born, Karin Struck. Den Vorarlberger Dichter Franz Michael Felder, der nur eine halbe Autostunde entfernt gelebt und geschrieben hatte, brachte überhaupt erst Handke dem Jugendlichen nahe. Und dann war da noch der Literaturlümmel Handke, der die Granden der Zunft nassforsch abkanzelte. Schiller, Musil, Brecht? Taugenichtse vor dem Herrn, schimpfte Handke, der gegen Klassikeraberglauben immunisierte.

Die gestohlene „Elfenbeinturm“-Ausgabe nach Jahrzehnten wieder aus dem Regal genommen, auf Seite 93 der Bibliotheksstempel. Sätze, die noch immer treffen: „Literatur ist für mich lange Zeit das Mittel gewesen, über mich selber, wenn nicht klar, so doch klarer zu werden.“ Großer Schriftsteller, das ist schnell dahingesagt. Seit Sommer 1988 sammeln sich die Belege stoßweise in meinem Buchregal.

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Viel von Handke in den darauffolgenden Jahren gelesen, viel davon auch wieder vergessen. Was von den Romanen und Erzählungen geblieben ist, ließe sich mit einem leicht variierten Satz des französischen Schriftstellers Claude Simon begründen: Man liest Handke, um sich später zu erinnern, wie es war zu der Zeit, als man Handke las. Der Nachmittag im Freibad mit „Die Angst des Tormanns beim Elfmeter“, umgeben von Badegästen, die ein bisschen so aussahen wie Eidechsen, die in der Sonne Energie tankten; die ruckelnde Zugsfahrt mit „Die Lehre der Sainte-Victoire“ und dem hibbeligen Mitreisenden gegenüber; der nasskalte Novemberabend im Kaffeehaus mit „„Der kurze Brief zum langen Abschied“, unter den Blicken einer Frau mit einem Lächeln, dem viele Zähne fehlten. Bleibende Erinnerungen.

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Was Handke notorisch vorgeworfen wird – die dahinmäandernden Sätze, die sturköpfige Weigerung, bündige Geschichten zu erzählen, der biblische Ernst, die Vernarrtheit ins Kleinklein, das manierierte Ausbüxen ins Naturbetrachten und -beobachten –, waren dem „Elfenbeinturm“-Räuber schon früh willkommene Gründe, Handkes gewaltig-zartem Schreiben mit jedem Buch aufs Neue zu folgen. Sorry, ihr Dauernörgler: Mich springen poetisches Flimmern und grazile Schwere an. Weidlich oft hat Handke mit seiner Erzählprosa natürlich auch genervt und angeödet. „In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus“ (1997) – Handke imitiert Handke; „Kali“ (2007) – eine „Vorwintergeschichte“, auf halbem Weg eingeknickt; „Lucie im Wald mit den Dingsda: eine Geschichte“ (1999) – ein Tamtam-Märchen. Und und und. Höchste Zeit also für die Handke-Lieblingsbücher (schwere Entscheidung): „Kindergeschichte“ (1981); „Die Wiederholung“ (1989); „Die Abwesenheit“ (1987); „Mein Jahr in der Niemandsbucht“ (1994); „Die morawische Nacht“ (2008); „Die Obstdiebin“ (2017).

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Wer Handkes Werke liest, durchschreitet und durchsteigt Prosalandschaften und Denkgebirge, stößt auf Sätze, die lange nachhallen, stolpert allenthalben über mit äußerstem Bedacht gewählte Wörter; dem Handke-Leser löst sich im Idealfall die Welt aus der Umklammerung des Immergleichen, aus der Verkrampfung des Floskelhaften und Nichtssagenden. Man vertraut sich einem großherzigen Cicerone an, der einen auf seinen Entdeckungsfahrten ohne Gehabe und Getue teilnehmen lässt, der einem nie großkotzig kommt: Hach, all das ist dir bisher entgangen! Man ist mit einem rastlosen Beobachter und Menschenfreund unterwegs, keinem Blender und Klugredner. Es gibt kaum ein Buch des Schriftstellers, in dem die Helden nicht auf Reisen wären. Das eigene Leben ist nach der Lektüre der Prosa, Lyrik und Journale Handkes, angemessen pathetisch gesagt, nur mehr schwer gedankenlos hinzunehmen. Manchmal kann man beim Vagabundieren durch Handkes Bücher sogar das leise Ticken der Welt hören.

„Lesen Sie gefälligst!“, forderte er einst in einem Interview.

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Tag für Tag eine kleine Epiphanie, die weltliche Offenbarung des Alltags nach Peter H.: der Fingerabdruck im Fensterkitt; der Duft des Wollsakkos im Sonnenschein; das Dutzend Spatzen, aufgeplustert gegen die Kälte, im welken Eichenbusch; das Schwanken des zum Halten gekommenen Reisebusses; das Holzknacken im Buschwerk; die fliegenden Haare des Kindes, mit dunkleren Strähnen dazwischen; die sich auflösende Dunkelheit des frühen Morgens. Die Umkreisung des Kleinen und Kleinsten, mit der Handkes Literatur von vielen gleichgesetzt und im selben Atemzug allzu gern verächtlich gemacht wird, findet nie um der schieren Marginalität willen statt, sondern um schöne und genaue Geschichten zu erzählen.

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Nicht ganz zehn Jahre nach meinem „Elfenbeinturm“-Raub wurde Handke, Mitte der 1990er-Jahre, ins Reich der Hysterie verbannt. Man fing an, den Mund zu verziehen, halb indigniert, halb mitleidig, sobald sein Name ins Spiel kam. Viele Eiferer und Geiferer, harte Inquisitoren, kaum Verteidiger seines umstrittenen Reiseberichts „Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien“ (1996). Es war einfach, in Peter Handke den Serbenfreund zu sehen. Es war zu einfach. Meine Ratlosigkeit, das dumme Gefühl der Unsicherheit und die alles überwölbende Frage: Darf man Handke noch lesen? Man durfte. Man musste.

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Jedes seiner Bücher müsse in Grundzügen neu und anders sein als das jeweils vorangehende, so Handke in einem seiner Essays, ausnahmsweise mehr oder weniger Grundsätzliches konstatierend: „Mir scheint, so wie man nur einmal durch denselben Fluss gehen kann, so kann man nur einmal denselben Satz verwenden, beim zweiten Mal ist es schon ein Irrtum, beim nächsten Mal schon eine Schande, schließlich nur noch Idiotie“, notierte der Autor vor genau 50 Jahren. Handke hat seinen Lesern den Gefallen getan, kein Buchfutterproduzent zu sein, der ein ums andere Mal die Belletristikabteilungen mit Bausatzprosa belieferte. Die mehr als 11.000 Seiten des Gesamtwerks, in der neuen Handke-Bibliothek des Suhrkamp Verlags auf 14 Bände verteilt, sind das phänotypische und poetische Gegenstück zur rustikalen Designer- und Ausschmückungsdichtung, die seit je die Bestsellerlisten flutet. Mit dem vagen Psychologisieren steht Handke auf Kriegsfuß, ihm sind vorgefasste Prämissen, Postulate, Parolen zuwider. Die brackigen Biotope der Besserwisserei meidet er bis dato weiträumig, Moden, Mätzchen und Mache überlässt er anderen, er gibt nicht vor, alles erlebt, gesehen, erreicht zu haben, sondern nähert sich der Welt mit Beschreibungs- und Charakterisierungspräzision, unterläuft Erwartungen und Meinungen. Er folgt mithilfe von Bleistift, Papier und Radiergummi seit Jahrzehnten seiner ganz eigenen Schreib-Rhythmik und Daseins-Metrik.

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Beneidenswert, wer noch nie ein Handke-Buch in Händen gehalten hat und mit den Journalen beginnen darf, diesen so klugen wie verzettelten Umkreisungen des Alltäglichen. Man nehme „Das Gewicht der Welt“ (1977), lese flanierend, wechsle zur Sinnesreizfeier von „Die Geschichte des Bleistifts“ (1982), widme sich anschließend den Notizbuchglücksfällen „Phantasien der Wiederholung“ (1996), „Am Felsfenster morgens“ (1998) sowie „Gestern unterwegs“ (2005) , Handkes Mit-Schreiben des täglichen und nächtlichen Geschehens, bevor der Band „Vor der Baumschattenwand nachts“ (2016) das Weglesen und Abtauchen in die Journal-Schriften beschließt. Allesamt Bücher aus der Luft und dem Leben gegriffen, in Suhrkamps neuer Handke-Bibliothek 2632 Seiten stark. Noch immer etwas vom Grandiosesten, was auf Deutsch zu lesen ist. Oder sind es doch die fünf „Versuche“? Die im besten Sinne Essaybände sind – über die Müdigkeit, die Jukebox, den Pilznarren, den Stillen Ort, den geglückten Tag? Anders gefragt: Ist so etwas wie Ranking-Sucht und Bestplatz-Orakeln überhaupt angebracht bei einem wie Handke, bei dem auf Tausenden Seiten keinerlei bombastische Superlative und raunende Absolut-Setzungen zu finden sind? Die Sache mit Handke muss Zuneigung sein.

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„Der alte Hund weicht nicht von mir“, zitierte Handke unlängst einen Satz des amerikanischen Schriftstellers John Cheever. Auf die kommenden Jahre!

Die Peter-Handke-Bibliothek im Berliner Suhrkamp Verlag. Abteilung I: Prosa, Gedichte, Theaterstücke. 9 Bände, 7008 S., EUR 203,60; Abteilung II: Aufsätze. 2 Bände, 1784 S., EUR 70,–; Abteilung III: Journale. 3 Bände, 2632 S., EUR 91,50

Wolfgang   Paterno

Wolfgang Paterno

ist seit 2005 profil-Redakteur.